10 Dinge, die Sie über “Rinaldo” wissen sollten

Ein sächselnder Engländer
Wo gehört er eigentlich hin, dieser Händel? Geboren in Halle an der Saale, zwischenzeitlich in Hamburg, verbrachte er seine wilden Studienjahre in Italien. Mit einer wahnwitzigen Virtuosität am Cembalo und einem Händchen fürs Geschäft erarbeitete er sich seinen Ruf als „caro Sassone“ – die Italiener liebten ihren Sachsen. Doch sein Koffer blieb gepackt, er zog weiter an den Hof von Hannover, wo er sich die Erlaubnis zum zeitweiligen Verreisen in den Kapellmeistervertrag hineinschummelte. Diese nutzte er aus, als sich die Möglichkeit ergab, in London Fuß zu fassen. Er stahl sich über den Ärmelkanal davon; erst für ein Weilchen, dann für immer. In England verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens, 1727 wurde er englischer Staatsbürger.

Effects, action, spectacles!
Verwöhnt vom englischen Sprechtheater, erwartete die Londoner Kulturbürgerschaft auch in der Oper vorzügliche Unterhaltung. Aaron Hill, Bühnenimpresario und Pächter des Queen’s Theatre am Haymarket, hatte sich in den Kopf gesetzt, die italienische Oper in London zu etablieren. Die Londoner rümpften die Nase: etwas aus der Fremde Importiertes konnte nichts taugen. Als Händel nach London kam, witterte Hill seine Chance, die Engländer vom Gegenteil zu überzeugen. Er schnappte sich den im italienischen Stil versierten Sachsen und beauftragte ihn sofort mit der Komposition einer Oper: Rinaldo. Mit spektakulären Bühneneffekten, viel Action und hinreißenden Melodien traf Händels erste Londoner Oper exakt den Zeitgeschmack und wurde ein riesiger Erfolg – obwohl auf Italienisch. Magnificent!

Sperlinge und Drachenspuk
Der Schaulust des Opernpublikums musste mit Musik und großen Effekten Genüge getan werden. Das Libretto von Rinaldo sah vor, dass Personen von Falltüren verschluckt und von Rauchwolken verhüllt, von feuerspeienden Drachen begleitet und auf der Bühne verwandelt werden sollten. Besonders ein Effekt prägte sich aber bei allen Beteiligten ein: Es waren lebendige Spatzen auf der Bühne! Diese machten sich dummerweise selbstständig, die Oper musste fürchten, sie nie wieder los zu werden und den Besuchern wurde eine Kopfbedeckung empfohlen. Außerdem befolgten die Vögel ihre Einsätze nicht ganz so wie erwünscht… Beeindruckend war es trotzdem.

Kreuzzug und Magie
Ein christlicher Kreuzzug mit Zauberei und orientalischem Glitzer: erscheint absurd, macht diese Opernhandlung aber spannend, lustig und verrückt zugleich.
Der Heerführer Goffredo belagert mit seinen Kreuzrittern Jerusalem. Rinaldo, ein junger Ritter, ist der beste Feldherr der Christen. Dummerweise interessiert er sich gerade herzlich wenig für den Krieg, er will lieber Goffredos Tochter Almirena heiraten. Der gestrenge Herr Papa erpresst Rinaldo: Erst nach der erfolgreichen Einnahme Jerusalems gibt es eine Hochzeit. Unterdessen heckt die Gegenpartei einen Plan aus. Argante, Anführer der Sarazenen, holt sich Hilfe von seiner Geliebten, der mächtigen Magierin Armida. Diese lockt Rinaldo in ihre Fänge, um die Christen zu schwächen. Es folgen einige Verwechslungsspiele, fehlgeleitete Liebeleien, Goffredo lässt sich ebenfalls von einem Zauberer helfen, die Christen siegen und am Ende sind alle glücklich. Wirklich? Aus Händels Musik und seinen differenzierten musikalischen Charakterzeichnungen spricht eine andere Wahrheit…

Von der historischen Begebenheit zur Oper
In den Jahren 1096-99 wurde Jerusalem erobert – im allerersten Kreuzzug. Der italienische Dichter Torquato Tasso fasste diese Begebenheit in Verse: Sein Kreuzfahrer-Epos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem) aus dem Jahre 1593 wurde zum berühmtesten Werk seines Dichters. Aaron Hill, oben erwähnter Opernimpresario, war nicht nur Manager und Chef des Theaters am Haymarket, sondern konzipierte auch Werke für die Bühne. Tassos Verse dienten ihm als Vorbild für Rinaldo. Er ergänzte Handlungsstränge, erfand die Figur der Almirena und verfasste das Szenario auf Englisch. Der Librettist Giacomo Rossi übersetzte das Ganze dann ins Italienische und arbeitete das Libretto vollständig aus.

Bouillon, historisch geprüft
Die Namensverwandtschaft ist zu schön, als dass man sie verschweigen könnte. Das historische Vorbild des Opern-Goffredos heißt wie eine Suppe! Gottfried von Bouillon führte die Christen im ersten Kreuzzug nach Jerusalem und wurde Oberhaupt Jerusalems. Doch obschon sein Name den köstlichen Duft einer heißen Brühe in die Nase zaubert, hat er nichts damit zu tun. Seinen Beinamen erlangte er nämlich durch die Belagerung des französischen Bouillon im Jahre 1077.

Abgekupfert
Händels Librettist, Giacomo Rossi, war verblüfft: „Ich sah zu meinem großen Erstaunen, dass er eine komplette Oper mit höchstem Genie und größter Vollkommenheit in nur zwei Wochen schuf.“ Wie schaffte Händel das? Eine plausible Erklärung liefert die sogenannte Parodie: Im Barock war es Gang und Gäbe, sich selbst zu zitieren, von eigenen und fremden Stücken etwas abzukupfern und es in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Dieser Melodien- und Ideenklau galt damals noch nicht als verwerflich, und man kann ihn nicht mit dem heutigen Plagiat gleichsetzen – zumal Händels Wiederverwertung so kunstvoll und schlau gemacht ist, dass man sie ihm nicht übel nehmen kann. Die berühmteste Arie aus Rinaldo beispielsweise, „Lascia ch’io pianga“, stammt aus Händels Oratorium namens Il Trionfo del Tempo e del Disinganno und hieß ursprünglich „Lascia la spina“.

Verwirrung aus Überzeugung
Zwei lieben sich, dürfen aber noch nicht heiraten. Eine andere verliebt sich aus Versehen in den Falschen, deren Geliebter wiederum verliebt sich auch in die Falsche, die Macht der Liebe wird als Druckmittel eingesetzt, alle werden verwechselt, ausgetauscht und am Ende wieder zusammengeführt. Die Handlung von Rinaldo verschlingt sich unzählige Male und stolpert beinahe über sich selbst. Weshalb die ganze Verwirrung? Was für uns kompliziert wirkt, hat einen wichtigen Sinn: die Musik. Händel musste jede Hauptfigur mit mindestens einer Arie pro Akt versorgen, die Diven wollten sich schließlich facettenreich präsentieren. „Ich will ein trauriges und ein fröhliches, ein tiefes und hohes, langsames und schnelles Stück, eins mit Koloraturen und eins mit vielen Trillern.“ So in etwa könnten die Forderungen der Sängerinnen und Sänger geklungen haben. Die Abfolge der Szenen musste sich also an die Musik anpassen, nicht andersrum.

Engel wider Willen
Sie sind und bleiben ein Faszinosum der Barockzeit: Kastraten. Ohrenzeugen beschreiben ihre Stimmen als engelsgleich, wie nicht von dieser Welt; ihre Gesangstechnik muss atemberaubend gewesen sein. In der Uraufführung von Rinaldo waren zwei Kastraten besetzt: Nicolini (eigentlich Nicolò Grimaldi) als Rinaldo und Valentini (Valentino Urbani) in der Rolle des Eustazio. Wie diese beiden geklungen haben mögen, können wir uns nicht mehr vorstellen – zum Glück. Denn hinter dem glanzvollen Star-Dasein einiger weniger Kastraten tut sich ein tiefer Abgrund auf, eine Schattenwelt voller Schmerz und psychischer Erkrankungen. Heutzutage werden diese beiden Rinaldo-Partien von Frauen oder Countertenören gesungen, mit heilem Körper und gesunden Stimmen – und mindestens genauso schön.

Wie ein kleines Messerchen über das Schicksal Tausender kleiner Jungen im Barock entschied, können Sie in unserem Blog-Beitrag nachlesen. Engel wider Willen

Das Armida-Mysterium
Tassos literarische Vorlage inspirierte zahlreiche Komponisten zu Bühnenwerken. Christoph Willibald Gluck, Gioacchino Rossini, Jean-Baptiste Lully, Joseph Haydn und Antonín Dvorák – sie alle verarbeiteten den Stoff zu Bühnenwerken. Doch benannten sie diese nicht nach dem heldenhaften Ritter Rinaldo, sondern nach der Magierin Armida. Eine starke Frau, die ihre Magie auf allen Ebenen einsetzt und ihren Geliebten Argante einfach so in die Tasche steckt, eine Bösewichtin, über deren Niederlage man am Ende fast traurig ist. Hier passt der Vergleich mit dem Action-Film: Oft sind die Bösen die viel interessanteren Charaktere, denen man allein ob ihrer klugen Ideen Erfolg wünscht.

von Marie König

 

 

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