Vom Bach zum Meer: 7 Stationen auf dem Weg des „Kleinen schwarzen Fisches“

Vom Bach zum Meer: 7 Stationen auf dem Weg des „Kleinen schwarzen Fisches“

Am 9. Juni 2023 schwimmt der titelgebende Protagonist aus Samad Behranghis Märchen „Der kleine schwarze Fisch“ endlich über die Dortmunder Opernbühne und präsentiert sich dort dem Publikum – anderthalb Jahre haben die aktuellen Mitglieder der Bürger*innenOper auf diesen Moment hingearbeitet! 2018 wurde das Format gegründet und ermöglicht seitdem Menschen jeden Alters und mit unterschiedlichen musikalischen Vorerfahrungen, Teil ihrer eigenen Oper zu sein – entweder als Sänger*in auf der Bühne oder am Instrument im Orchester. Im Sommer 2021 – als die Bürger*innen, ausgebremst durch Pandemie-Regularien, noch um die Fortsetzung ihres aktuellen Stückes „Die Bürgschaft“ rangen – fand sich das Künstler*innen-Team bereits zu ersten Vorgesprächen zum neuen Stoff zusammen. Neben Komponist Thierry Tidrow und Regisseur Justo Moret, die beide schon für „Die Bürgschaft“ zusammengearbeitet haben, kam nun auch die Komponistin Elnaz Seyedi hinzu, die den „Kleinen schwarzen Fisch“ als Neukomposition für die Bürger*innenOper vorgeschlagen hatte. Die Reise konnte beginnen!

1. Eins Neun Sechs Sieben, der Fisch wird aus dem Bach getrieben

Zeichnung Samad Behranghis © Farshid Mesghali

Naja, eigentlich hatte die Reise des kleinen schwarzen Fisches schon lange begonnen – nämlich 1967, als die Geschichte des iranischen Schriftstellers Samad Behranghi veröffentlicht wurde. Behranghis Persönlichkeit ähnelt stark der Hauptfigur seines heute bekanntesten und meistübersetzten Werkes: Der Protagonist von „Der kleine schwarze Fisch“ ist ein mutiger Aktivist (oder auch eine mutige Aktivistin – die Geschlechtszugehörigkeit des Fisches lässt sich nicht eindeutig bestimmen), der gegen die Ungerechtigkeit seiner Umwelt vorgeht und sie bekämpft. Behranghis Aktivismus fand vor allem im Bereich der politischen Bildung statt. Als Lehrer an verarmten Dorfschulen forderte er weitreichende Reformen: mehr Ressourcen, die Verbannung von Staatspropaganda aus den Lehrbüchern, die Vermittlung von Inhalten in der Muttersprache der Schüler*innen. Das Schah-Regime unter Mohammad Reza Pahlavi reagierte darauf mit mehrfacher Strafversetzung Behranghis und Zensur all seiner angestrebten Veröffentlichungen. Und das waren nicht nur dessen Unterrichtsmaterialien, sondern auch gesammelte Volksgeschichten – wie die des kleinen schwarzen Fisches. Denn in dieser sah das Regime eine direkte Aufforderung zu zivilem Ungehorsam und Widerstand, womit sie nicht falsch lagen. Selbst Jahrzehnte nach dem Tod Behranghis werden dessen Worte und Ideen von politischen Gefangenen und iranischen Aktivist*innen zitiert, die gegen die Ungerechtigkeit in ihrer Heimat kämpfen. Und vor allem in der gegenwärtigen Lage ist das Vermächtnis seines kleinen schwarzen Fisches lebendiger denn je.

2. Ein hürdenreicher Anfang schweißt zusammen

Klavierauszug-Ausschnitt aus dem Prolog (Komponist: Thierry Tidrow)

Aber vorwärts, bzw. zurück, in den Januar des Jahres 2022! Das letzte Stück „Die Bürgschaft“ war erfolgreich vor anderthalb Monaten aufgeführt worden und direkt nach der Neujahrspause sollte der Kick-Off des neuen Bürger*innenOpern-Projektes stattfinden. Das bedeutet: Alle Interessierten werden in die Oper eingeladen und lernen die anderen Neugierigen sowie das Künstler*innen-Team kennen. Man kommt zusammen ins Gespräch und tauscht sich über die Geschichte, die Planung und mögliche Ideen und Wünsche aus. Das Konzept ist an dieser Stelle bewusst offen gehalten und auch die Musik noch nicht geschrieben – denn sie soll sich nach den Teilnehmer*innen richten und nicht umgekehrt. Aber ach, der Januar kam und diese eine Sache war noch nicht weg. Und solange das böse C im Winter tobte, war an eine Versammlung von rund 70 Neu- und Alt-Bürgis nicht zu denken. Am 14. März konnte das lang ersehnte Treffen endlich stattfinden – und zwar gleich zweimal hintereinander, denn Pandemie-bedingt musste die Gruppe geteilt werden und mit Maske aufschlagen. Im folgenden Monat kitzelte die Musikalische Leiterin der Bürger*innenOper Ruth Katharina Peeck die schüchternen Stimmen des Chores aus ihrem Schneckenhaus und führte sie mit den erfahreneren zusammen. Und weil Stimmbildung mit Maske schwierig ist, wurden die Gruppen am üblichen Probenmontag in drei aufeinanderfolgende Slots à 45 Minuten aufgeteilt, inklusive städtisch angeordneter, vorheriger Antigenschnelltest-Überprüfung – ein Organisations-Aufwand, der zusammenschweißte. In der Zwischenzeit komponierten die beiden Komponist*innen vorsichtig die ersten Nummern, noch ohne recht zu wissen, wie diese Stimmen zusammen klangen oder wie geübt und ungeübt die Instrumentalist*innen waren. Deshalb gab es zur Überbrückung die ersten Nummern als Klavierversionen für den Chor. Irgendwie muss man schließlich auch mal anfangen. Und passenderweise läutete die erste Nummer Ende April nicht nur die fabelhafte Geschichte, sondern auch das Ende der getrennten Proben mit den ikonischen Worten ein: „Es war einmal …“

3. Zwischenstopp Workshop: Die individuelle Mandarine

Schnappschuss nach einer Übung aus dem Workshop „Stereotype und Vorurteile – Bilder im Kopf“

„Nehmen Sie sich eine Mandarine. Beschreiben Sie sie. Und jetzt schauen Sie sie sich genauer an. Was zeichnet Ihre Mandarine aus? Was macht sie besonders? Woran werden Sie sie wiedererkennen, wenn sie mit den anderen Mandarinen wieder im Beutel liegt?“ Die Aufgabe, sich eine Mandarine ganz genau anzuschauen, war Teil einer Übung des Workshops „Stereotype und Vorurteile – Bilder im Kopf“, der von Mitarbeitenden des Multikulturellen Forums in Dortmund für interessierte Mitglieder der Bürger*innenOper gegeben wurde. Das Ziel war zu definieren, was Stereotype und Vorurteile sind, die eigenen zu identifizieren und sie in der Geschichte des kleinen schwarzen Fisches zu suchen, die Aspekte davon aufgreift. Das warf einige grundsätzliche Fragen auf: Wie nehme ich die Welt wahr? Wie bin ich in der Gesellschaft positioniert? Was sagt die Dominanzgesellschaft zu Akteur*innen, die nicht Teil davon sind? Wie stark ist meine Sicht geprägt von den Leuten, bei denen ich aufgewachsen bin? Welche Rolle spielen meine Familie, meine Freunde, die Nachbarschaft? Ab wann dominiert ein Stereotyp den Menschen? Daher: Interessieren Sie sich für die Mandarine und schauen Sie genauer hin!

4. Die erste Bühne: Werkschau im Theater im Depot. Oder: Es war einmal ein ignoranter, armsel’ger Frosch

Foto aus der Werkschau des „Kleinen schwarzen Fisches“ (li: Leila Niazmand-Borji, re: Regina Schott) © Björn Hickmann

Am 3., 4. und 5. Juni 2022 wagten die Bürger*innen den Sprung ins kalte Nass und reckten ihre Köpfe zum ersten Mal aus der Wasseroberfläche. Denn da standen sie auf der Bühne des Theater im Depot in der Nordstadt und sollten – gemäß der Begrifflichkeit „Werkschau“ – Ausschnitte aus dem aktuellen Stück präsentieren. Wer bis hierhin aufmerksam gelesen und Zeitgefühl hat, wird das vielleicht erstaunlich finden. Denn durch die Pandemie-bedingte Verschiebung des Probenstarts nach hinten blieb nunmehr nur ein Monat übrig, in dem musikalisches Material geliefert und geprobt werden konnte. Zum märchenhaften Prolog gesellte sich Szene 6 – „Der Frosch“ und aus den Klavierversionen wurden Orchesterinstrumentierungen. Mit dem Anspruch eine Werkschau zu machen, die länger als fünf Minuten dauert, wurde diese kurzerhand in eine „Format-Schau“ umgewandelt, in der das Publikum einen Einblick in die besagten zwei Nummern und die Geschichte bekam, aber vor allem beobachten konnte, wie die Bürger*innen und das Team sich dem Stück näherten, zusammen daran szenisch und musikalisch probten und dabei eine richtig gute Stimmung versprühten! So gut, dass nach der Werkschau das Postfach für Neuanmeldungen überquoll und die Bürger*innenOper mit fast doppelt so vielen mutigen Fischen als vorher in die nächste Spielzeit startete.

5. So nah wie möglich

Gruppenfoto mit den Bürger*innen aus Chor und Orchester für das aktuelle Spielzeitheft; vorn mittig die Musikalische Leiterin Ruth Katharina Peeck © Sophia Hegewald

Natürlich  dreht sich die Bürger*innenOper vor allem um die Proben und die jeweils aktuelle Produktion, die am Ende eines etwa zweijährigen Probenweges auf die Bühne gebracht werden soll. Aber ebenso natürlich passiert auf diesem Weg noch eine ganze Menge mehr, was man mit den Schlagworten Community, Teilhabe und Zugänglichkeit umschreiben könnte. In monatlich stattfindenden Stammtischen konnten sich die Mitglieder im geselligen Rahmen untereinander sowie das Künstler*innen-Team besser kennenlernen und dabei auch die ein oder andere theaterthematische Frage stellen, die ihnen schon lange auf der Zunge brannte. Oder sich über andere Opernproduktionen austauschen, für die sie mit ihrem Mitgliedsausweis vergünstigt Karten bekommen hatten. Sie konnten sich in einem Workshop diskriminierungssensibel weiterbilden, beim jährlichen Adventssingen und in der Junge Oper-Produktion „Mädchen in Not“ als rhythmischer Sprechchor mit dem klingenden Rollen-Namen „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ mitmachen. Bei der Generalprobe von „Inside Carmen“ feuerten sie als geladene Gäste die jungen Kolleg*innen der OpernKids und OpernYoungsters an. Andere setzten sich dafür ein, im Rahmen der Veranstaltung „Jin, Jiyan, Azadi!“ und der Folgeveranstaltung „Iran. Kunst. Widerstand.“ über die aktuelle Situation im Iran aufmerksam zu machen und darüber aufzuklären. Darüber hinaus sei betonend hervorgehoben, dass die Bürger*innenOper als Format für alle Menschen zugänglich ist – unabhängig von jedweder musikalischen Vorerfahrung. Während der Anmeldungsphase erreichten die Verfasserin dieses Textes schüchterne Anfragen á la: „Ich habe keine große Erfahrung mit Oper, aber ich mag Musik und das Projekt klingt spannend. Darf ich vielleicht trotzdem mitmachen?“ JA, möchte man dann in Großbuchstaben und 40-Punkt-Schriftgröße antworten. Die Bürger*innenOper ist ein Format, in dem jede*r sich individuell mit seinen oder ihren Stärken einbringen kann. Ein Format, in dem Oper nahbar wird und zeigt, wie gemeinschaftsstiftend und aktuell diese Kunstform sein kann. Nicht umsonst sind im Wording der Bürger*innenOper beide Wortteile so eng beieinander.

6. Zwischenstopp Mond: Zahlen, bitte!

Bühnenbildprojektion von Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Hörling auf Basis der Originalzeichnungen aus „Der kleine schwarze Fisch“ von Illustrator Farshid Mesghali.

Im Verlauf der 20 größeren und kleineren Szenen des Stückes gibt es 3 Mondszenen. In diesen kontemplativen, ruhigen Szenen sucht der kleine schwarze Fisch die Gesellschaft des Mondes und wagt sich dafür an die Oberfläche des Wassers. In diesen Momenten ist er ganz bei sich, reflektiert, ordnet seine Gedanken und steht nicht nur in Verbindung zu sich, sondern auch etwas Größerem, für das es keine Worte gibt – aber vielleicht ja Zahlen. Atmen wir also einmal tief die Luft über der Wasseroberfläche ein und lassen wir das Folgende wirken.

Aktuell wirken 95 Teilnehmer*innen beim „Kleinen schwarzen Fisch“ mit. 68 davon singen und spielen auf der Bühne, 27 musizieren im Orchestergraben. Sie sind zwischen 8 und 75 Jahren alt. In den Endproben teilen sich die Sänger*innen 17 Garderoben auf 4 Stockwerken. 24 davon tragen auf der Bühne Sicherheitsschuhe, um Bühnenbildteile bewegen zu können. Darunter sind 8 sogenannte Wellenwägen, der Größte mit einer Höhe von 4,50 Metern, und ein Gefährt (das intern liebevoll Transformer-Wagen getauft wurde) von 2 Metern mal 2,50 Metern, welches sowohl ein fahrbarer Thron als auch ein Esstisch sein kann. All das spielt auf einer Fläche von 16 Metern Breite und 15 Metern Tiefe – bis der kleine schwarze Fisch ins Meer kommt und das Publikum einen Blick auf die noch einmal so große Hinterbühne erhascht. Dort verweilen stehend- und hängenderweise 6 abstrakte Unterwassergewächse, die sich aus über 1.000 geschweißten, einzeln aufgeblasenen Tüten zusammensetzen, die zuvor 150 Laufmeter Folie gewesen waren – und einerseits ein Kommentar auf die Vermüllung unserer Meere sind, dafür aber andererseits ummantelt von dunkelblauem Licht ganz fantastisch aussehen. Für die Teilnehmer*innen auf der Bühne wurden 240 unterschiedliche Kostüme und Kostümteile angefertigt. Vom Probenbeginn bis zur Premiere vergingen 453 Tage.

7. Die zweite Bühne: Opernhaus Dortmund. Oder: Schwimm, kleiner schwarzer Fisch!

Nur noch zwei Schritte bis zum Rampenlicht. Ein schmaler Spalt zwischen dem Pult der Inspizienz und den Bühnenbildteilen führt auf die Bühne des Opernhauses.

Am 9. Juni, wenn für das Publikum der kleine schwarze Fisch sich zum ersten Mal entscheidet, die Welt zu erkunden, sind die Bürger*innen bereits am Höhepunkt ihrer Reise mit dem Fisch angekommen. Mit dem Applaus der Zuschauer*innen, der anschließenden Premierenfeier und den darauffolgenden Gesprächen zwischen Publikum und Bürger*innen mündet der Höhepunkt in die zweite Aufführung am 11. Juni. Und wie am Ende des Märchens der Fisch verschwindet, verschwindet er auch von der Opernbühne. Einfach so. Dieser ganze Aufwand, diese lange Probenzeit und nach zwei Abenden auf der Bühne ist es schon vorbei? Zurück bleibt die Essenz der Erfahrung. Auch das plötzliche Verschwinden des kleinen schwarzen Fisches in der Geschichte bedeutet kein finales Ende: „Wichtig allein ist es, dass nach seinem bewegten Leben der kleine schwarze Fisch sich in die Ewigkeit auflöst und in die Gesellschaft der Fische verflochten wird. Er ist ab dann ein Stück von jedem befreiten Fisch, der das Meer erreichen wird.“ (D. Manutschehr Hesarkhani) Und ebenso von jedem*r Bürgi!

Für alle Wiederholungstäter*innen und jene, die sich vom Theaterfieber haben anstecken lassen, geht es in der nächsten Spielzeit auch gleich mit einem neuen Projekt weiter. Dafür müssen die wässrigen Gefilde nicht einmal verlassen werden: In dem Event „Großstadtpiraten“ kapert die Bürger*innenOper zusammen mit vielen weiteren musikalischen Gruppierungen aus Dortmund und Umgebung den Opernvorplatz. Hissen Sie mit uns die Segel und seien Sie gespannt. Arr!

https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/der-kleine-schwarze-fisch/

Titelbild: Anke Sundermeier


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