Mit Beginn der Saison 2024/25 ist Marc L. Vogler neuer…

Was bleibt? – 7 Retrospektiven auf „Who Cares?“
Am 22. und 23. Juni feierte Who Cares? seine Uraufführung im Opernhaus Dortmund.
Dem Projekt ging ein Jahr intensiver Proben, Gespräche und gemeinsamer künstlerischer Arbeit voraus. Entstanden ist ein kollektives Musiktheater der Dortmunder Bürger*innenOper, getragen von fast einhundert Menschen aus Dortmund und Umgebung. Sie alle brachten ihre persönlichen Erfahrungen mit Fürsorge, Erschöpfung und Hoffnung ein.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Cura, die Göttin der Sorge. Sie formt den Menschen aus Erde und begleitet ihn durch sein Leben, bis er an den Folgen seines eigenen Handelns zerbricht. Zurück bleibt Cura, erschöpft und allein. Was bleibt vom Menschen? Erinnerungen an Nähe, Verantwortung und Verletzlichkeit. Und die Frage, wer sich kümmert und wie lange das noch möglich sein wird.
Die Dortmunder Bürger*innenOper ist ein partizipatives Format, das regelmäßig Menschen unterschiedlicher Hintergründe auf die Bühne bringt. Mit Who Cares? ist ein Werk entstanden, das in die Gegenwart hineinreicht – musikalisch, politisch und persönlich. Wir haben sieben Mitwirkende gefragt, was für sie bleibt, was in ihnen nachklingt und was sie aus diesem besonderen Projekt in ihren Alltag mitnehmen. Sieben Stimmen geben Einblick in ein Musiktheater, das weit über den Augenblick einer Vorstellung hinaus wirkt.
1. Mirjam Schmuck, Regisseurin und Videografin von Who Cares?

Was für mich bleibt nach Who Cares? ist die Erfahrung einer gelebten Utopie: ein Chor, ein Orchester, fast hundert Bürger*innen auf der Bühne, die zeigen, dass Theater ein Raum sein kann, in dem jede und jeder einen Platz findet, unabhängig von Stimme, Bühnenerfahrung oder Ausbildung. Dieses Projekt war auf die Menschen zugeschnitten, die daran teilgenommen haben. Ihre Geschichten, ihre Stimmen, ihre Präsenz haben die Bühne geprägt; als Einzelne und zugleich als kollektive Figur der Cura. Für mich als Regisseurin liegt darin Hoffnung und Energie: dass sich institutionelle Bühnen tatsächlich für die Stadtgesellschaft als Publikum ebenso wie für sie als gestaltende Kraft auf der Bühne öffnen können. Diese Offenheit, dieses Teilen, dieses gemeinsame Erschaffen ist für mich zukunftsweisend für das Theater und für unsere Gesellschaft.
2. Ruth Katharina Peeck, Musikalische Leiterin der Dortmunder Bürger*innenOper und Dirigentin von Who Cares?

Für mich war es bei Who Cares? wieder spannend zu beobachten, wie sich, wie bei jedem unserer neuen Projekte, eine neue Gruppe zusammengefunden hat, in der neue Gesichter und langjährige Teilnehmende aufeinandertreffen. Ich mag es, auf sozialer wie auf musikalischer Ebene mitzuerleben, wie diese Menschen einander begegnen und sich besser kennenlernen.
Im Orchester haben wir diesmal einige Neuzugänge begrüßt, die direkt ins kalte Wasser gesprungen sind und unser Projekt mit vollem Einsatz (menschlich wie musikalisch) bereichert haben. Auch im Chor konnten wir erneut einige neue Menschen fürs Singen und Spielen auf der Bühne begeistern. Auch wenn ich bei der großen Anzahl an Chorsänger*innen natürlich nicht immer alle einzeln im Blick haben kann, bin ich umso stolzer darauf, dass wir im vergangenen Jahr gemeinsam einen schönen Chorklang entwickelt haben – und in dieser Spielzeit sogar vier- und fünfstimmige Stücke singen konnten. Ein wirklich großer musikalischer Fortschritt für das Ensemble! Besonders berührend war es für mich, die persönlichen Geschichten dieser Menschen aus den Fragebögen zu hören – vor allem, als sie mit den mir vertrauten Stimmen im Saal vorgelesen erklangen.
3. Christa Griesel-Junk, die als Mitglied des Bürger*innen-Chores begann und Who Cares? schließlich aus dem Publikum erlebte

Im September 2024 war es so weit: Die Chorproben für das neue Stück der Bürger*innenOper mit dem Titel Who Cares? begannen. Montags traf sich der Chor – zunächst für Stimmbildung und vorbereitende Übungen, denn die Stücke waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig komponiert. Erst nach einigen Wochen erhielten wir die ersten Noten, auf die wir alle schon sehr gespannt gewartet hatten. Gemeinsam mit Ruth Katharina Peeck studierten wir die neuen Texte und Melodien ein – und stellten einmal mehr fest: Sie hört wirklich jeden falschen Ton. Mit Humor, Geduld und großer Musikalität übte sie mit uns, bis selbst schwierige Passagen richtig gut klangen. Wir konnten es selbst kaum glauben, als uns das erste Lied fünfstimmig (!) gelang.
Die szenischen Proben begannen damit, dass wir uns untereinander austauschten: Was bedeutet „Sorgearbeit“ für jede und jeden von uns? Wie begleitet sie unser Leben? Unsere Regisseurin Mirjam Schmuck gab uns immer wieder neue Impulse und Aufgaben. Mit Offenheit und Ehrlichkeit gingen alle Bürgis in das Stück hinein – ein Stück, das sich stetig weiterentwickelte. Als schließlich das Libretto vorlag, waren wir überrascht: Wer ist Cura? Was machen wir hier eigentlich? Und was sollen die ganzen Schaufensterpuppen und Torsi? Aber nach und nach wuchsen wir in das Stück hinein. Dank Mirjams unermüdlicher Arbeit, etwa beim Auswerten unserer Fragebögen, fügte sich alles zusammen. Dann kamen die Kostüme. Jede*r bekam zunächst einen dunklen Hoodie … wie traurig! Wir hatten große Bedenken. Doch unsere Kostümbildnerin Nanako Oizumi ging auf viele Wünsche ein, unterstützte uns und brachte schnell Farbe ins Spiel.
Während der Proben wuchsen wir immer mehr zu einer Familie zusammen. Ich freute mich jedes Mal auf die gemeinsame Zeit; sie war erfüllt, intensiv und wunderbar. Das Stück selbst, mit seiner Aussage, dass Mitmenschlichkeit und Sorge für andere und für die Natur das wahre Lebenselixier sind, löste mit jeder Probe mehr Begeisterung aus. Ich war so froh, Teil dieser Gruppe zu sein.
Leider konnte ich aufgrund einer Operation an den letzten Proben nicht mehr teilnehmen, und es war klar, dass ich nicht mit auf der Bühne stehen würde. Das hat mich traurig gemacht, und doch eröffnete sich mir dadurch eine besondere Perspektive: Ich durfte die Premiere als Zuschauerin erleben, und das mit dem Blick einer „Insiderin“. Als das Licht im Saal ausging, konnte ich mir genau vorstellen, wie die Aufregung auf der Bühne gerade steigt. Ich wusste, wo es manchmal „hakt“ und war gespannt, ob alles klappt. Dann begann das Stück, und ich war tief berührt von der großartigen Leistung aller Mitwirkenden und von der aktuellen, kraftvollen Botschaft an die Welt. Ich fieberte mit. Und eine Freundin, die neben mir saß, meinte hinterher, ich hätte manchmal sogar leise mitgesungen.
Ich war so begeistert, dass ich mir auch die Dernière nicht entgehen ließ. Und wenn es noch eine weitere Aufführung gegeben hätte: Ich wäre auch da dabei gewesen. Ich danke allen Beteiligten für dieses unfassbare Geschenk. Und ich freue mich schon jetzt auf das nächste Projekt, bei dem ich ganz bestimmt wieder aktiv mitmachen werde!
4. Sergio Gelsomino, Mitglied des Bürger*innen-Orchesters sowie Unterstützer des musikalischen Teams

Who Cares? war für mich auf mehreren Ebenen eine besondere Erfahrung. Als Flötist im Orchestergraben erlebt man die Produktion aus einer eigenen kleinen Welt: konzentriert auf Noten, Taktstock und Zusammenspiel. Die Bühne bleibt fern, fast unsichtbar und doch spürt man, dass oben etwas Bedeutendes geschieht. In den Pausen teilen wir leise Lachen und Blicke – wie Kinder in einer selbstgebauten Hütte. Lampenfieber? Fehlanzeige. Dafür ein starkes Miteinander. Neben meiner Rolle als Musiker durfte ich auch einige Orchesterproben und den Soundcheck leiten – eine Aufgabe, die mich forderte und wachsen ließ. Ich habe mich intensiv mit der Partitur beschäftigt, sie fast auswendig gelernt, und so Vertrauen im Orchester gewonnen. Während der Vorstellungen habe ich, wenn Ruth mit dem Chor arbeitete, manchmal ein „Dirigat unter dem Dirigat“ gegeben; eine schöne Gelegenheit, meine Vielseitigkeit auszuleben.
Die Geschichte von Who Cares? habe ich mir wie ein Puzzle zusammengesetzt, durch kurze Blicke auf die Bühne, Gespräche, eigenes Nachlesen. Szenen wie die mit den Händen und dem Text oder der Moment mit dem Nutellamesser haben mich tief bewegt. Auch die musikalische Passage, in der „Kann nicht mehr, mag nicht mehr, komm nicht mehr hinterher“ gesungen wird, begleitet mich bis heute – an müden Tagen summe ich es, und ein Lächeln folgt.
Durch das Projekt habe ich auch gespürt, wie stark die Verbindung zu DORTMUND MUSIK (Anm.: Kooperationspartner des Projekts) ist. Viele Chormitglieder sind oder waren Schüler*innen oder haben Verwandte dort. Es gibt immer etwas zu lernen, musikalisch und menschlich. Am Ende nehme ich viel mit: Hoffnung, Dankbarkeit – und einen Ohrwurm vom Walzer: „Mmm tatataaa… mmm tam… mmm tatataaa…“
5. Mara Belter, Mitglied des Bürger*innen-Chores

Nun ist die letzte Melodie von Who Cares? längst verklungen – doch in meinem Kopf ist die Musik noch da. Eine Musik, die die Zuhörenden in ganz unterschiedliche Klangwelten mitnahm und immer wieder überrascht hat. Was ich aus Who Cares? mitnehme, ist die Erfahrung, dass vieles, was zunächst schwierig erscheint, doch erreichbar ist. Durch die beständige, ermutigende Unterstützung von Ruth und Mirjam, durch ihre Geduld und Empathie, hat der Chor schließlich zu einem wunderbaren Klang und einer eindrucksvollen szenischen Darstellung gefunden. Ich durfte erleben, wie wohltuend ein achtsamer Umgang im Chor ist, wie gut es tut, sich in der Gruppe gegenseitig zu unterstützen und dort Geborgenheit zu finden.
In der Rolle der Erdgöttin Terra – voll behangen mit Müll, ganz allein auf der riesigen Bühne – ist mir der eindrucksvolle Text, den ich sprechen durfte, sehr nahe gegangen: Die letzte Konsequenz unseres Umgangs mit der Natur könnte sein, dass menschliches Leben auf diesem Planeten unmöglich wird. Doch ich nehme auch Hoffnung mit: die Hoffnung, dass durch mehr Menschlichkeit und einen achtsamen Umgang mit der Natur ein Weiterleben auf dieser Erde möglich bleibt.
6. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 23.06.2025

„Mit „We DO Opera“ ist an der Oper Dortmund ein bemerkenswertes Projekt etabliert worden: Einmal im Jahr treten Amateure auf die große Bühne. Dieses Jahr ist für sie „Who Cares?“ entstanden (…). „Who Cares?“ ist teils Moritat auf den Menschen, der seinen eigenen Lebensraum verschmutzt und verprellt (Terra, die Erde persönlich, ist nicht amüsiert!), teils eine Reflexion über das Altern und Sterben und die Spuren, die dieser Prozess auf dem Körper zeichnet. Wie sehr „We DO Opera“ in Dortmund angekommen ist, ließ sich bereits daran ablesen, wie voll die Bühne war. (…) Mirjam Schmucks Inszenierung bleibt angenehm zurückhaltend. Sie nimmt Elemente des Bewegungstheaters und nutzt die klassische Chorführung aus dem antiken Drama: der Chor, als Kommentator dramatischer Entwicklung, ist immer präsent, kommentiert und schlägt die Brücke zum Zuschauer. Schmuck und Peeck führen den großen Laienchor sauber, lassen Einzelne kurz hervortreten, zeigen auch individuelle Blicke auf den Menschen. Die Musik von Marc L. Vogler führt mit Walzerliedern und sparsamen Akzenten durch die Handlung und schattiert sie traurig, aber zugleich auch hoffnungsvoll.“ (Edda Breski)
7. Dany Handschuh, Dramaturgin von Who Cares? und Koordinatorin der Dortmunder Bürger*innenOper

Theater ist ein flüchtiges Erlebnis. Und mit großem Aufwand verbunden: Who Cares? wurde über anderthalb Jahre vorbereitet, ein ganzes Jahr intensiv geprobt. Mehr als hundert Menschen haben ihre Zeit, Energie und Leidenschaft in dieses Projekt investiert: an Wochenenden, in stillen Stunden zu Hause, in szenischen und musikalischen Proben. Und all das für zwei Vorstellungen; rund 70 Minuten auf der großen Bühne des Opernhauses. Zwei Abende, die viel zu schnell vorübergingen. Was also bleibt?
Wenn die Aufführung die sichtbare Spitze des Eisbergs ist, dann liegt das Wesentliche darunter. Nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, aber spürbar. Es zeigt sich im Gewachsenen: im Vertrauen, in der Gemeinschaft, in der gesammelten Erfahrung. Dieses Fundament trägt und wird mit jedem Projekt solider. Auch wenn es nicht unmittelbar auf der Bühne sichtbar ist, wirkt es im „Bürgi-Ensemble“ weiter. Von Jahr zu Jahr.
In meiner Rolle als Koordinatorin befinde ich mich an einer kommunikativen Schnittstelle. Bei mir treffen neue Anmeldungen ein, organisatorische Rückfragen, persönliche Anliegen, vorsichtig formulierte Zweifel ebenso wie Worte der Wertschätzung und Anerkennung.
Als ich vor vier Jahren zur Bürger*innenOper kam, habe ich oft gelesen: „Ich kann gar nicht singen. – Ich spiele mein Instrument erst seit ein paar Monaten. – Ich kann keine Noten lesen. – Ich habe noch nie Oper gemacht. – Darf ich trotzdem mitmachen?“ Die Antwort war immer dieselbe: Ja, natürlich – warum denn nicht?! Es berührt mich jedes Mal aufs Neue zu sehen, wie sich diese Unsicherheiten, die übrigens nicht nur unsere Neuen betreffen, nach und nach verwandeln: in ein gesundes Vertrauen in die eigene Kraft, in Offenheit für das gemeinsame Arbeiten, in Vertrauen zum jeweiligen Kreativteam. Auch die Scheu vor dem, was im Wort „Oper“ mitschwingt, scheint mehr und mehr seinen „Schrecken“ zu verlieren. Projekt für Projekt bröckelt sie ein Stück mehr.
Das zeigt sich nicht nur in der stetig wachsenden Zahl an Teilnehmenden. Es zeigt sich vor allem in den vielen liebevollen, dankbaren Rückmeldungen, die mich nach jeder Produktion erreichen und – man verzeihe mir die kitschige, aber ehrliche Formulierung – mein Herz jedes Mal aufs Neue zum Überlaufen bringen. Da sind Worte voller Stolz. Rückmeldungen von Freund*innen, Familienangehörigen, Bekannten: „Ich hätte nie gedacht, dass ganz normale Menschen auf einer Opernbühne so etwas erzählen können.“ Von Menschen, die nie zuvor ein Opernhaus betreten haben und plötzlich Lust bekommen, mehr zu entdecken. Auch im Ensemble wächst die Neugier: Viele besuchen andere Produktionen, wirken in allen möglichen Projekten mit, wollen mehr erfahren über diese Opernwelt, die – zumindest hier bei uns – viel offener ist, als man vielleicht zunächst vermuten mag. Who Cares? ist nun in den Erfahrungsschatz der Bürger*innenOper eingetreten und wirkt dort weiter – in diesem einzigartigen, gemeinschaftsstärkenden Format, das jedem und jeder etwas bieten kann, wenn man bereit ist, durch seine Tür zu gehen. Sie steht offen, kommt herein!
© Header: Mirjam Schmuck © Szenen-Fotos: Björn Hickmann