Auch die diesjährige Ausgabe unseres traditionellen Festivals "Wagner-Kosmos" (22. – 25. Mai 2025) wurde wieder von einem spannenden, interdisziplinären Symposion im Opernfoyer begleitet. Eine Dokumentation in Bildern …
7 Dinge über „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“, die Sie (vielleicht) noch nicht wussten …
Am 10. November 2025 bringt die Junge Oper Dortmund ihre nächste Uraufführung auf die Bühne des Operntreffs: die Jugendoper Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute – eine Neukomposition von Edzard Locher für Stimme und Perkussion nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jens Raschke. Aus der Perspektive der Tiere im Zoo von Buchenwald erzählt das Stück von den menschenverachtenden Geschehnissen, die diese jenseits ihres Zauns beobachten – und davon, wie sie damit umgehen. Zwischen dem Verhalten von Papa Pavian, dem Murmeltiermädchen und dem Bären verhandelt sich die zentrale Frage des Stücks: Wegsehen, Verdrängen oder Handeln? Im Opernhausblog verraten wir 7 spannende Fakten und Hintergründe über das Nashorn, die Sie (vielleicht) noch nicht wussten …
1.) Der „Zoologische Garten Buchenwald“

Handgeschnitzter Wegweiser mit der Aufschrift „Zool. Garten Buchenwald“. © Stadtmuseum Weimar
„Stellt euch einen Zoo vor. Einen Zoo vor vielen Jahren. Keinen sehr großen, eher einen mickrigen Schwarz-Weiß-Foto-Zoo.“ Mit diesen Worten beginnt das Stück Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute – und in eben diesem Zoo spielt sich dessen Handlung ab. Was wie der Beginn eines Märchens klingt, beruht auf einem wahren Kern: Den Zoo aus Was das Nashorn sah, … hat es nämlich tatsächlich gegeben: direkt neben dem Konzentrationslager Buchenwald. Der erste Lagerkommandant Karl Koch ließ den „Zoologischen Garten Buchenwald“ im Frühjahr 1938 von den Häftlingen erbauen. Er sollte den SS-Angehörigen und deren Familien „in ihrer Freizeit Zerstreuung und Unterhaltung bieten und einige Tiere in ihrer Schönheit und Eigenart vorführen, die sie sonst in freier Wildbahn zu beobachten und kennenzulernen kaum Gelegenheit gehabt hätten.“ So tummelten sich dort Rehe, Hirsche, Wildschweine, Enten, australische Trauerschwäne, eine Pavianfamilie und bis zu vier Bären – anfangs soll es sogar ein Nashorn gegeben haben. „Ein Idyll vom friedlichen Leben“, nennt der ehemalige Häftling Karl Barthel in seinem Buch Die Welt ohne Erbarmen den Kontrast zwischen dem Leben diesseits und jenseits des Lagerzauns: „Die Tiere haben es tatsächlich sehr schön in Buchenwald! Aber zwei Minuten davon leben Menschen, nicht weil sie wollen, sondern müssen. Zu Hunderten sterben sie dahin an Kollaps, Bauchtyphus, Ruhr, Unterernährung usw. Sie werden gehetzt, geschlagen, gemordet.“ In den zahlreichen, teils sehr detaillierten Berichten über die Befreiung des Lagers am 11. April 1945 durch die amerikanische Armee wird der Zoo nicht näher erwähnt. Vermutlich fielen die Tiere den Bombenangriffen der Alliierten zum Opfer oder wurden zuvor verlegt. 1994 wurden Reste des verschütteten und überwucherten Zoos freigelegt und sind heute wieder zugänglich.
Auch in Edzard Lochers „Veroperung“ des Nashorns beginnt alles mit dem Zoo – und das hört sich so an:
Gesang: Cosima Büsing, Wendy Krikken, Franz Schilling; Schlagwerk: Sven Pollkötter | Dirigat: Koji Ishizaka
2.) Die Geschichte des Bären Betti

Die restaurierte Bärenburg in der Gedenkstätte Buchenwald, 2022. © Lukas Severin Damm / Gedenkstätte Buchenwald
Das Gehege mit der sogenannten Bärenburg wurde damals von Fachleuten des Leipziger Zoos entworfen. Einer der Bären, so ist überliefert, trug den Namen Betti. Im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald befindet sich ein einziges, handgeschriebenes und -illustriertes Exemplar des Bilderbuchs Eine Bärenjagd im KZ Buchenwald. Tragikomisches Idyll. Der Häftling Kurt Dittmar hielt darin 1946 Bettis Geschichte fest: ihren nächtlichen Fluchtversuch aus dem Zoo, ihre Entdeckung durch den Schutzhaftlagerführer Arthur Rödl, ihre Erschießung – und schließlich, wie die Lager-SS den Kadaver über einem Feuer briet und verzehrte.

Zwei spielende Bären im Bärenzwinger von Buchenwald. © Stadtmuseum Weimar
Autor Jens Raschke greift dieses Schicksal in Was das Nashorn sah, … auf. Im Stück erzählt das Murmeltiermädchen dem Bären vom grausamen Ende seines Vorgängers – nachdem Papa Pavian ihm vorgelogen hat, dieser würde glücklich auf einer fernen Insel leben. Doch das Murmeltiermädchen stellt klar: „Von wegen Insel! Völlig ausgetickt ist der. Hat sich eines Nachts einen Tunnel gebuddelt unter der Burgmauer durch. Da war er auf einmal weg. Wir dachten alle, den seh’n wir hier nie mehr wieder. Aber nach drei Tagen kam er dann doch zurück. Tot. Über einem riesigen Feuer haben die Gestiefelten ihn gebraten und bis auf die Knochen gegessen. Deshalb vergiss das mit der Flucht.“
3.) Die Fabel – eine sichere Form für unbequeme Wahrheiten

Zeichnung zu Äsops Fabel: Der Fuchs und die Trauben. © Projekt Gutenberg
Wenn Tiere die Rollen von Menschen übernehmen, nennt man das eine Fabel. Seit Äsop im antiken Griechenland wird sie genutzt, um menschliches Verhalten in Tiergestalt zu spiegeln. Fabeln schaffen einen erzählerischen Umweg, der es erlaubt, über Macht, Gier, Angst oder Mut zu sprechen, ohne direkt anzuklagen. „Manchmal ist es dadurch viel einfacher, bestimmte Themen zu bearbeiten“, sagt Regisseur Stephan Rumphorst. „Früher hat man Fabeln benutzt, um politische Begebenheiten zu analysieren. Man konnte sagen: ‚Das sind doch nur Tiere!‘ – aber das war ein Trick, um unangenehme Wahrheiten auszusprechen.“
Auch Jens Raschke greift auf diese Tradition zurück. In seiner Fabel blicken die Tiere des Zoos auf die „Gestreiften“ und die „Gestiefelten“ – die Häftlinge und ihre Wärter – und sprechen über das Unbegreifliche, das sich direkt vor ihren Augen abspielt. Die Fabel schafft dabei Distanz – und rückt uns doch zugleich näher. Gerade weil sie verfremdet, macht sie Schreckliches wieder erzählbar und lässt das Publikum hinschauen, wo es sonst vielleicht wegsehen würde. Für Raschke ist sie deshalb die konsequenteste Form, um auf der Grundlage des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte über Schuld, Mitläufertum und Verantwortung zu sprechen.
4.) Die „Gestreiften“ auf der anderen Seite des Zauns

Blick über den Appellplatz auf das Torgebäude; Lagertor mit seiner nur von innen lesbaren, Inschrift „Jedem das Seine“. Rechts sind die Fensterverblendungen des Arrestzellenbaus zu erkennen, 1943. Foto: Erkennungsdienst des KZ Buchenwald. © Musée de la Résistance et de la Déportation, Besançon
Das Konzentrationslager Buchenwald wurde 1937 auf dem Ettersberg bei Weimar errichtet und war bis Kriegsende das größte KZ auf deutschem Boden. Es war Teil des nationalsozialistischen Terrorsystems, in dem politische Gegner, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und viele weitere Minderheiten verfolgt, misshandelt und ermordet wurden. Über 265.000 Menschen waren dort inhaftiert, mindestens 56.000 verloren ihr Leben. Trotz der Gewalt organisierten sich Häftlinge im „Internationalen Lagerkomitee“, um Mithäftlinge zu schützen und Widerstand zu leisten. Auch der Schriftzug „Jedem das Seine“ am Lagertor von Buchenwald, gestaltet vom inhaftierten Bauhaus-Architekten Franz Ehrlich, wurde später als stilles Zeichen des Widerstands gedeutet. Ehrlich, der von der SS mit der Anfertigung der Inschrift beauftragt worden war, wählte ganz bewusst eine sachliche Bauhaus-Typografie – eine Schriftform, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert worden war. Damit setzte er ein verstecktes Zeichen von Würde und innerer Unbeugsamkeit – ein leiser, aber bedeutungsvoller Akt der Selbstbehauptung innerhalb des Systems der Entmenschlichung.
Am 11. April 1945 erreichten US-amerikanische Truppen das Lager. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Gefangenen bereits selbst die Kontrolle übernommen, nachdem die SS geflohen war. Rund 21.000 Häftlinge erlebten die Befreiung; wenige Tage später legten die Überlebenden den „Schwur von Buchenwald“ ab – ein Versprechen, den Kampf der Ermordeten fortzusetzen:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. / Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ (Auszug)
Das Wort Buchenwald fällt im Nashorn kein einziges Mal. In Edzard Lochers Oper erklingt jedoch die Melodie des Buchenwaldliedes als musikalisches Erinnern an das Konzentrationslager. Das Lied entstand 1938 auf der Grundlage eines Volksliedes durch die Häftlinge Hermann Leopoldi und Fritz Löhner-Beda (der vier Jahre zuvor, noch in Freiheit, das Libretto zu Paul Abrahams Lustspieloperette Märchen im Grand-Hotel schrieb). Die SS zwang die Häftlinge, das Lied bei Appellen oder beim Marschieren zu singen. Trotz seines erzwungenen Ursprungs vermittelt der Text zwischen den Zeilen Würde, Zusammenhalt und Hoffnung – und wurde nach der Befreiung zum Symbol inneren Widerstands. Bis heute steht Buchenwald als Gedenkstätte und Mahnmal der Verbrechen des Nationalsozialismus – und für die Menschlichkeit, die selbst inmitten des Grauens nicht erlosch.
5.) „Wir haben von nichts gewusst.“

Lageplan des Konzentrationslagers Buchenwald mit Beschriftung der Örtlichkeiten aus dem Stück.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärten viele Deutsche, sie hätten von den Konzentrationslagern nichts gewusst; sie hätten, wenn überhaupt, nur Gerüchte gehört oder geglaubt, es handele sich um reine Arbeitslager. Doch die Realität war sichtbar – besonders in Buchenwald. Der Zoo, der für die Zivilbevölkerung aus der Umgebung, darunter auch aus dem nur acht Kilometer entfernten Weimar, nicht nur zugänglich, sondern ein überaus beliebtes Ausflugsziel war, lag nur wenige Meter vom Häftlingslager mit seinen heruntergekommenen Baracken entfernt.
Ab 1940, als die Zahl der Todesopfer stieg, befand sich direkt gegenüber vom Zoo das Krematorium mit seinem weithin sichtbaren Schornstein. Dort wurden die Leichen der ermordeten oder an Hunger und Misshandlung gestorbenen Gefangenen verbrannt. Zeitzeug*innen berichteten, dass der daraus entstehende süßlich-ätzende Geruch allgegenwärtig war. Hans Berke schrieb 1946 in seinen Lagermemoiren Buchenwald. Eine Erinnerung an Mörder, einige Tiere des Zoos seien an diesem beständigen Gestank verendet. Es ist unmöglich, dass die Besuchenden des Zoos oder die Arbeiter aus der Umgebung diesen Gestank nicht wahrgenommen haben – und ein weiteres Zeichen dafür, dass die Verbrechen, zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt, kein Geheimnis mehr waren.

Lagerkommandant Karl Koch mit Sohn im Tiergehege, 1939. © National Archives, Washington
Dieses Foto zeigt Lagerkommandant Karl Koch mit seinem Sohn Artwin beim Zoobesuch, fotografiert von seiner Frau Ilse. Im Hintergrund, deutlich sichtbar, das Häftlingslager. 1947 behauptete Ilse Koch vor Gericht, dieses Lager niemals gesehen zu haben. Auch andernorts waren die Hinweise unübersehbar. Züge voller Häftlinge fuhren quer durch deutsche Städte und Dörfer – langsam, in offenen Waggons, oft bei Tag, sichtbar für alle, die an den Gleisen standen. Menschen hörten die Schreie aus den Zügen, sahen die abgemagerten Gestalten hinter Stacheldraht, begegneten Zwangsarbeitern auf Feldern, in Werkhallen und Steinbrüchen. Viele mussten wissen, dass diese Menschen nicht freiwillig dort waren. Und doch schwieg die Mehrheit. Manche aus Angst, selbst verfolgt zu werden, andere aus Gleichgültigkeit oder weil sie die Realität verdrängten. Das Wegsehen wurde zur stillen Form der Mittäterschaft.
6.) Bär oder Pavian?

Autor der Schauspielvorlage Jens Raschke © Theaterstückverlag
Der Umstand des bewussten Wegsehens war für Autor Jens Raschke der eigentliche Auslöser, Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute zu schreiben. „Es ist kein Stück über das Konzentrationslager Buchenwald – darüber lässt sich womöglich gar kein Stück schreiben –, sondern ein Stück über die Frage: Bär oder Pavian?“, erklärt er. Seit seiner Uraufführung 2015 am Deutschen Nationaltheater Weimar wurde das Nashorn an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland gespielt – unter anderem in Innsbruck, Oslo, Biel, Lyon sowie an vielen deutschen Stadt-, Staats- und Landestheatern. Das Stück wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit zwei bedeutenden Preisen ausgezeichnet: dem Deutschen Kindertheaterpreis 2014 und dem Niederländisch-Deutschen Kinderdramatikerpreis Kaas & Kappes. Die Jurys würdigten Raschkes Werk als ebenso erschütternde wie hoffnungsvolle Parabel über Verantwortung und Menschlichkeit. Ihm gelinge das Kunststück, einen historischen Stoff in eine fiktive Geschichte zu überführen, die zugleich poetisch, verständlich und von universeller Bedeutung sei. Gerade darin liegt die besondere Relevanz des Stückes: Es richtet sich bewusst an ein junges Publikum und findet eine Sprache, die schwierige Themen zugänglich macht, ohne sie zu verharmlosen. Die Tiere des Zoos werden zu Spiegelbildern menschlicher Haltungen – der Pavian steht für Gleichgültigkeit und Selbstschutz, der Bär für Empathie und Zivilcourage. So wird Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute zu einem wichtigen Stück politischer Bildung: Es ermutigt Kinder wie Erwachsene, das Gesehene nicht nur zu verstehen, sondern Haltung zu entwickeln – und erinnert daran, dass Mitgefühl und Mut immer neu gelernt werden müssen.
7.) Niemals vergessen

Die We DO Opera! – OpernKids im Gespräch mit Komponist Edzard Locher
Die Zahl der Überlebenden des Holocaust nimmt von Jahr zu Jahr ab – bald wird niemand mehr leben, der direkt davon erzählen kann. Zu den letzten Zeitzeuginnen gehörte Margot Friedländer, die zunächst im Berliner Untergrund lebte, nachdem ihr Vater in Auschwitz ermordet und ihre Mutter und ihr Bruder deportiert worden waren. 1944 wurde sie nach Theresienstadt gebracht, wo sie den Holocaust überlebte. Im Mai 2025 verstarb sie und mit ihr eine der wichtigsten Stimmen heutiger Erinnerungskultur. Umso relevanter werden in Zukunft historische Dokumentationen und künstlerische Formen sein, die Erinnerung, Empathie und Verantwortung lebendig halten. Während der Proben zur Jugendoper Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute haben sich auch die Kinder unseres partizipativen Formats We DO Opera! – OpernKids intensiv mit dem Stoff beschäftigt und die Proben begleitet. Sie führten Interviews mit den Mitwirkenden und dem Kreativteam, sprachen über die Entstehung der Oper und über die Fragen, die das Stück aufwirft. Für die OpernKids bedeutet diese Auseinandersetzung, Verantwortung zu übernehmen, sich zu erinnern, hinzuschauen und ihren Teil dazu beizutragen, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen.
Gesang: Cosima Büsing, Wendy Krikken, Franz Schilling; Schlagwerk: Sven Pollkötter | Dirigat: Koji Ishizaka
