ARBEITEN MIT REDUKTION

Interview mit Matthias Huber zur Audiodeskription in Der Häßliche

Szene Der Häßliche: Scheffler (Ruth Katharina Peeck), Lette (Marcelo de Souza Felix), Fanny (Anna Lucia Struck), © Björn Hickmann

Mit Der Häßliche steht in der Jungen Oper nicht nur eine Neuproduktion an, sondern auch eine Premiere in Sachen Inklusion: Vorstellungen im März und April werden mit einer einführenden Touch Tour und Audiodeskription angeboten. Damit arbeitet die Junge Oper aktiv am Abbau von Barrieren im eigenen Theater und im eigenen Kopf. Seit der Konzeptionsphase wird das Team beratend von Access Maker begleitet, ein von Un-Label initiiertes Modellprojekt, das drei Theater in NRW (darunter das Theater Dortmund) bei ihren inklusiven Öffnungsprozessen unterstützt und dabei mit Kulturschaffenden mit Behinderung zusammenarbeitet. Im Fall von Der Häßliche mit Rose Jokic und Matthias Huber, die die Audiodeskription für dieses Stück erstellen – das Herzstück der barrierearmen Zugänglichkeit von Kulturangeboten für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen.

Im folgenden Interview gewährt Matthias Huber, Regisseur und Autor, Einblicke in die Arbeit rund um die Audiodeskription. Die Fragen stellt die Agentin für Diversität Dany Handschuh.

Fangen wir mal mit den Basics an: Was ist eine Audiodeskription?

Eine Audiodeskription ist die Beschreibung aller visuellen Vorgänge, zum Beispiel in einem Theater oder einem Film, die nicht anders wahrnehmbar sind. Quasi eine Hörbeschreibung, ein Hörtheater, ein Hörfilm.

Also wird der Sehsinn in Sprache übersetzt. Wie macht man das?

Das hängt von mehreren Faktoren ab, die sich am Ende vielleicht nur in dem Satz bündeln: Petra kommt. Wir arbeiten mit dem Endprodukt, also in unserem Fall mit der fertigen Theateraufführung. Wir steigen so spät wie möglich mit der Arbeit ein, sprich an der Generalprobe oder Premiere. Mit einem Video der Probe bzw. der Vorstellung gehen wir dann in die Schreibtage und versuchen in mühseliger Kleinarbeit die Lücken mit Inhalten zu füllen, damit der nicht-sehende Mensch folgen kann.

Was meinst du mit „Lücken“?

Musik und Wort darf ich nicht übersprechen, weil das wichtige Informationen sind. Das heißt, ich muss mir dazwischen eine Lücke suchen, in die hineinkommt, was wichtig für die Dramaturgie des Abends ist. Das heißt Arbeiten mit Reduktion. Manchmal ist eben nicht mehr Platz als sieben Sekunden. Und in diese sieben Sekunden müssen dann die wichtigen Informationen rein, die Inhalte entweder vorwegnehmen oder nachliefern. Diese Lücken zu finden und zu füllen dauert seine Zeit.

Das ist ja schon mal eine Ansage an den AD-Text! Zeichnet der sich durch eine spezielle Form, Sprache oder einen Stil aus?

Eigentlich passt sich der Text der Inszenierung an, mit der ich mich vorab auch immer beschäftige. Es hat manchmal auch etwas mit dem Genre zu tun oder der Zielgruppe, an die er sich richten soll. Beispielsweise kannst du bei einem jüngeren Publikum anders formulieren, als bei einem erwachsenen Publikum. Aber der eigentliche Hauptfaktor ist die Zeit. Wenn nicht viel Platz ist, muss man sich eben stenografisch äußern, auch wenn das vielleicht nicht dem Stil des zugrunde liegenden Theatertextes entspricht. Aber ich versuche immer dem gerecht zu werden, was die Inszenierung ausdrücken will oder vorgibt. Dort docke ich an.

Also beinhaltet Audiodeskription eine Art Kompromiss zwischen Inhalt und Zeit.

Ja. Und man arbeitet immer verlustig. Es passiert so viel innerhalb von Sekunden auf mehreren Ebenen. Wie will man das beschreiben? Es geht nicht.

Ist das nicht ein wenig deprimierend?

Nein, nein! In der Reduktion kann der Abends trotzdem verständlich sein. Das ist sehr spannend! Wir, die wir aller Sinne mächtig sind – sage ich jetzt mal überheblich –, verlieren manchmal Informationen, gerade weil wir alle Sinne haben. Wir gucken ungenau, übersehen Dinge, werden abgelenkt. Die Audiodeskription fokussiert das Kerngeschehen und die Zusammenhänge. Und es begegnet mir regelmäßig, dass sehende Menschen manchmal erst durch die Audiodeskription verstehen, was da gerade passiert ist und damit schlauer aus einer Vorstellung hinausgehen.

Aber das heißt auch, dass die Audiodeskription, wie der Name schon sagt, so deskriptiv wie möglich bleiben muss und nicht zu interpretativ werden darf.

Ja. Das unterschreibe ich total. Aber du kannst mit wohl bedachten Worten eine Interpretation mitliefern. Du kannst es in dem Sinne, wie es gedacht ist, beschreiben. Aber eben nicht in deinem persönlichen Sinne. Ein Theaterabend lebt davon, dass 500 Leute aus demselben Stück herausgehen und alle einen anderen Abend gesehen haben.

Wie hält man die eigene Interpretation im Text zurück?

Es hilft, wenn man sich mit Theater auskennt, Theaterzeichen gut erkennen kann. Ich gehöre zu denen, die sagen: Der Text soll so nüchtern wie möglich gehalten werden. Bevor etwas dazu gedichtet und der Text mit der eigenen Meinung eingefärbt wird, sollte man zunächst bei dem bleiben, was faktisch passiert. „Was passiert auf der Bühne?“ ist die Basisfrage für die Audiodeskription. Und nicht: „Was ist gemeint?“. Das muss man sich immer wieder bewusst machen: Es geht nicht darum, was es sein soll, sondern was es ist. Aber durch die Auswahl der Worte und ihre Anordnung, lässt sich begreiflich machen, was gemeint ist. Aber – und jetzt sind wir wieder in deprimierenden Bereichen – das ist meistens ein Kampf gegen Windmühlen. Es wäre absurd zu sagen: Ich bin objektiv. Denn es wird immer mein Blick, meine Perspektive bleiben. Deswegen versuche ich auch, ein so breites Team wie möglich für die Erstellung einer Audiodeskription aufzustellen – am besten mit zwei sehenden Personen und einer nicht-sehenden. Auf diese Art haben wir schon einmal drei Meinungen, drei unterschiedliche Ansichten über das, was passiert. Wenn wir uns da untereinander einigen können, ist das eine gute Schnittmenge.

Bei der Erstellung einer Audiodeskription muss also notwendigerweise eine blinde Person beteiligt sein.

Ja. Mindestens als Referenzperson, am besten als Co-Autor*in. Der*Die blinde Kolleg*in zwingt uns Sehende gleich bei der Erstellung des Textes zur Genauigkeit. Man kann zum Beispiel in so vielen unterschiedlichen Weisen auf den Boden sinken oder in die Knie gehen. Und wir haben von Beginn an die Bedürfnisse der Zielgruppe im Blick, für die wir das machen. Es geht schließlich nicht darum, dass wir Sehenden uns aufgrund unserer Vorbildlichkeit zum Thema Inklusion auf die Schulter klopfen. Es muss jemand aus der Zielgruppe dabei sein. Und sobald mehrere Menschen an einer Sache beteiligt sind und sich darüber intensiv austauschen, dauert der ganze Prozess natürlich länger. Aber das Gespräch und der immer wieder stattfindende Abgleich ist für ein qualitativ hochwertiges Endergebnis eben wichtig.

Szene Der Häßliche: Scheffler (Ruth Katharina Peeck), Lette (Marcelo de Souza Felix), Fanny (Anna Lucia Struck), © Björn Hickmann

Wie genau funktioniert das nun beim Häßlichen?

Im Idealfall schauen Rose und ich uns die Generalprobe oder die Premiere an, oder arbeiten mit einem Mitschnitt der Vorstellung. Dann gehen wir in die Schreibphase, anschließend in die Korrekturphase. Rose überprüft meinen Text, wir verständigen uns darüber, formulieren um und finden gemeinsam den Gestus. Danach braucht es zwingend einen Live-Test unter Originalbedingungen, in dem wir die Inszenierung besser kennenlernen und auch das Ensemble. Wir überprüfen, ob das mit unserem bis dahin Geschriebenen übereinstimmt und ob man das so sagen kann. Dann sind wir AD-premierenreif und können das zu jeder Vorstellung wiederholen. Neu testen müssen wir nur, wenn zwischen den Vorstellungen zu viel Zeit verstrichen ist – zum Beispiel, wenn ein Stück wiederaufgenommen wird. Oder bei Umbesetzungen. Theater sagen meistens, dass da nicht so viel anderes passiert. In der Oper stimmt das wahrscheinlich noch am ehesten. Aber da steht ja auch ein ganz anderer Mensch auf der Bühne, der sich anders bewegt, ein anderes Rhythmusgefühl hat und ganz anders aussieht. Der muss dann natürlich neu beschrieben werden.

Du bist ja nicht nur als Autor sondern auch als Sprecher der Audiodeskription am Häßlichen beteiligt. Welche Anforderungen bestehen beim Sprechen einer Audiodeskription?

Man sollte nicht zu stark im Dialekt sprechen. Das sage ich als erstes und eher zu mir, weil ich kein ausgebildeter Sprecher bin, sondern eher so dazu kam. Man sollte auch aufmerksam sein und Improvisationsvermögen mitbringen. Manchmal passiert auf der Bühne etwas Unvorhergesehenes, was dann nicht im Text steht, worauf aber reagiert werden muss. Am Schauspiel Leipzig beispielsweise fiel einer Spielerin einmal versehentlich der Kugelschreiber aus der Hand und rollte ganz gemächlich aber geräuschvoll die Schräge herunter. Und die beiden Kolleg*innen, die die Audiodeskription gesprochen haben, konnten nicht sehen, was das gewesen ist, weil es so dunkel war. Sie konnten es sich nicht erklären, haben aber spontan versucht, das Geräusch einzuordnen und zu beschreiben. Da waren sie extrem am Denken und Formulieren! Generell gilt aber auch beim Sprechen, ähnlich wie beim Synchronübersetzen, die Regel, mit der Atmosphäre der Inszenierung mitzugehen. Aber bei all den Anforderungen an die Kunstfertigkeit der Sprecher*innen steht hauptsächlich der Service-Gedanke im Zentrum. Es geht nicht um künstlerische Selbstprofilierung, sondern darum, jemandem das Stück näher zu bringen.

Der Häßliche ist eine Satire und spielt als solche mit Situationskomik. Die basiert unter anderem auf dem Zusammenspiel von Situation, Beziehung und einer geplant spontanen Körperlichkeit – vor allem passiert sie aus dem Moment heraus. Selbst wenn klar ist, dass dieser Moment kommt, stelle ich es mir schwer vor, diesen einerseits in deskriptive Sprache zu übertragen und andererseits die Komik der Spontanität zu bewahren. Es sollen ja nicht nur sehende Menschen darüber lachen können. Wie lässt sich Situationskomik in beschreibende Sprache übersetzen?

Wir müssen da mit derselben Beharrlichkeit vorgehen wie die, die diese Situationskomik erstellt haben. Und darüber entsteht dann hoffentlich die Komik. Ab und zu muss man auch einfach die Hände heben und sagen: Sorry, es geht nicht. Ich kann es nicht erklären, es geht zu schnell, es wird zu viel geredet, zu viel gesungen, wir haben keine Zeit. Aber ich glaube, Situationskomik zu beschreiben geht nur, wenn man genauso akribisch und „unlustig“ ist, wie die, die es machen. Situationskomik entsteht vor allem durch exaktes Timing. In dem Sinne ist das Bauen einer Komödie überhaupt nicht lustig. Wir müssen versuchen im Rhythmus des Stückes mitzugehen, vielleicht auch die Stimmung vom Publikum einzufangen, die wir beim Testlauf unter Originalbedingungen zu spüren bekommen. Außerdem hilft es natürlich, wenn der*die Autor*in der Audiodeskription versteht, wie Komik gebaut wird – das lässt sich produktiv einbinden.

Figurinen Der Häßliche © Emine Güner

Du sagtest, du suchst nach Pausen bzw. nach Momenten, in denen nichts passiert, um Vorgänge beschreiben zu können. Die meisten Opern sind aber durchkomponiert, die Musik durchgängig präsent. Unterscheidet sich deine Herangehensweise an eine Audiodeskription für Oper daher grundsätzlich von der für Schauspielstücke?

Nein, auch da geben die Zusammenhänge die Lücken vor. Wenn Musik in eine Wiederholung geht, dann ist das beispielsweise meine Lücke. Das, was auf der Bühne stattfindet, muss ich in Zusammenhang bringen mit dem, was die Bühne mir bietet. Ich werde natürlich nicht in den höchsttragischsten Moment hineinplatzen, weil der dann nicht erfahrbar ist. Aber ich muss ihn entweder vor- oder nachbereiten. Am besten vorbereiten, um sich in die Emotion hineinlegen zu können, anstatt sie hinterher erklärt zu bekommen.

Wie bist du eigentlich zur Audiodeskription gekommen? Seit 2013 steht es jedenfalls in deinem Lebenslauf und seitdem auch durchgängig.

Ich bin damals im Team um Enrico Lübbe vom Theater Chemnitz nach Leipzig gewechselt. Er hat da die Nachfolge von Intendant Sebastian Hartmann angetreten. Ich habe von Hartmann schöne Inszenierungen gesehen, fand aber, dass der Kreis der Angesprochenen seiner Kunst eher exklusiv und wenig in die Stadt hinein gedacht war. Ein Theater, das von einem reinen Kunstgedanken getragen war. Enrico wollte das gern wieder als Stadttheater definieren, wollte in jeglicher Hinsicht in die Breite gehen und Schwellen senken. Und dazu gehörte eben auch der inklusive Gedanke. Von ihm kam auch der Impuls zu dem Projekt Audiodeskription. Er hatte das in Wien mitbekommen, mich darauf angesetzt und seitdem habe ich nicht locker gelassen. Erst in leitender Funktion am Schauspiel Leipzig und seit ich freiberuflich bin, versuche ich Sachsen und die anderen Bundesländer zu missionieren und den Theatern schmackhaft zu machen, dass das eine gute Sache ist. Ich inszeniere zwar auch regelmäßig, aber die Audiodeskription ist meine Hauptaufgabe geworden.

Wie verbreitet ist das Mittel der Audiodeskription im deutschen Theaterbetrieb?

Im Theaterbereich entwickelt sich das momentan sehr stark. Eines der ersten Häuser, das sich dem gewidmet hat, war das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Andere Theater haben das dann immer mal wieder für einzelne Vorstellungen aufgegriffen. Wir in Leipzig waren damals, als wir das angingen, tatsächlich federführend, weil wir ein breites Repertoire angeboten und das über die Spielzeit hinweg gepflegt haben. Es gab etwa drei bis vier Stücke, die wir mit Audiodeskription geplant haben und die wurden auch mindestens vier Mal gespielt. Das kommt dem inklusiven Gedanken auch näher, wenn man nicht gezwungen ist, ein Stück zu einem bestimmten Termin anschauen zu müssen. Aber es wird immer mehr und die Bereiche werden vielfältiger. In Berlin gibt es das Modellprojekt „theater hören berlin“, die sind im Verbund mit dem Berliner Ensemble, dem Karussell Theater, Friedrichstadtpalast und der Deutschen Oper, so können unterschiedliche Genres abgedeckt werden. Auch ein Haus wie das Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz bietet regelmäßig einmal im Jahr eine Vorstellung mit Audiodeskription an. Die Theater Chemnitz haben damit jetzt auch angefangen. Leider macht die Pandemielage gerade viele Aktivitäten in dem Bereich wieder unsichtbarer. Aber es streut und es wird immer mehr! Manche Häuser entscheiden sich auch für andere Angebote, bieten statt Vorstellungen mit Audiodeskription eben Stücke mit Gebärdensprachdolmetschung an. Das trägt auch dazu bei, Barrieren zu senken. Aber wenn man etwas macht, dann nicht nur halb. Man entscheidet sich für ein Angebot, baut das aus, führt es weiter und bettet es in die internen Abläufe ganz selbstverständlich ein. Mal ganz abgesehen von der eigenen Motivation ist das auch eine UN-Konvention. Die muss umgesetzt werden und nimmt uns alle in die Pflicht – nicht nur am Theater.

Was würdest du dir für den Bereich Audiodeskription im Theater wünschen?

Dass mehr Menschen sich trauen, dem scheinbar Unbekannten, dem scheinbar Aufwendigen, dem scheinbar Komplizierten eine Chance zu geben. Weil es tatsächlich gar nicht so unbekannt, aufwendig und kompliziert ist.


© Rolf Arnold

Matthias Huber arbeitet als Regisseur, Dramaturg und Autor für Audiodeskriptionen in Theater und Film – u. a. für das Hessische Landestheater Marburg, Schauspiel Chemnitz, Schauspiel Leipzig, theater junge generation Dresden, Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz, Polymora Inc., euro-scene Leipzig, die Forward Dance Company Leipzig, das Internationale Figurentheaterfestival Erlangen, die Nicolai Audiodeskription und Metrix Media Halle. Im Sommer 2021 war er Teil der disability-led-Performance „(We don’t) [kehr]“ von und mit Jana Zöll/Steven Solbrig bei Un-Label Performing Arts Köln.

 Von 2008 bis 2013 arbeitete Matthias Huber am Schauspiel Chemnitz, danach bis 2018 am Schauspiel Leipzig. Dort leitete er das Schauspielstudio der HMT Leipzig und das prämierte Audiodeskriptions-Projekt. In der steten Zusammenarbeit mit der Regisseurin Claudia Bauer erfolgten Einladungen zu mehreren Festivals, u. a. zum Berliner Theatertreffen 2017.

www.matthiashuber.net

Titelbild: Björn Hickmann

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