Ein revolutionäres Stück! Ein Stück Revolution?

Über wahrhaftige Aussprachen und unausgesprochene Wahrheiten in Mozarts Die Hochzeit des Figaro

Nicht selten befällt einen bei der Betrachtung großer Kunstwerke das Gefühl, dass diese ihre anhaltende Lebendigkeit und überzeitliche Bedeutung weit weniger aus einer überragenden technischen Meisterschaft, als vielmehr aus dem individuellen Ausdruck persönlichen Empfindens heraus gewinnen, den die Hand des Künstlers diesen einzuprägen verstand.

Zweifellos nimmt Die Hochzeit des Figaro unter den sieben späten Meisteropern Wolfgang Amadeus Mozarts einen ganz besonderen Stellenwert ein. Denn in keinem anderen seiner rund 21 vollendeten oder auch nur Fragment gebliebenen Bühnenwerke tritt der innere Drang seines Genies, sich von persönlichen, gesellschaftlichen und künstlerischen Zwängen zu befreien, in ähnlich unverkennbarer Weise hervor, als in eben dieser Oper – allerdings keineswegs in zerstörerischer oder gar rebellischer Manier, sondern stets elegant, geistvoll und wegweisend. Diese Beobachtung nachzuvollziehen, bedarf es zunächst eines Blickes zurück in Mozarts Vergangenheit, lange bevor er seinen Figaro in Angriff nahm.

Vom stürmischen Drängen zu früher Meisterschaft

Zahlreich und jedem Musikfreund wohl hinlänglich bekannt sind die Erzählungen vom Salzburger „Wunderkind“, das bereits in jungen und jüngsten Jahren (in Begleitung seiner Schwester Maria Anna, genannt Nannerl, sowie seines strengen und ehrgeizigen Vaters und Mentors, des Salzburger Hofmusikers Leopold Mozart) quer durch ganz Europa reiste und mit seinem Talent die Fürstenhöfe auf dem ganzen Kontinent in Erstaunen versetzte, dem das Mailänder Opernpublikum zujubelte, das sich vom Papst in Rom beklatschen und von der französischen Königin am Versailler Hof bei der Tafel Leckereien in den Mund schieben ließ. All diese Erfolge und Erfahrungen dürften nicht nur dazu beigetragen haben, dass der junge Mozart wichtige und prägende Impulse für seine spätere Reifung zu einem der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit – wenn nicht gar aller Zeiten – gewinnen konnte, sondern führten auch dazu, dass sich Ehrgeiz, Eigenliebe und Selbstbewusstsein des jungen Wolfgang immer weiter verfestigten.

Ganz wie auch andere junge Genies in der Mitte des 18. Jahrhunderts – man denke etwa an den jungen Friedrich Schiller, eingezwängt in die Ringmauern einer kunst- und geistesfeindlichen Stuttgarter Kadettenanstalt – empfand auch Mozart den engen Wirkungskreis im Dienste seines fürstbischöflichen Brotherrn zunehmend als Hemmschuh für sein weiteres persönliches wie auch künstlerisches Fortkommen; dies nochmals in gesteigertem Maße, als im Dezember 1771 sein bisheriger Arbeitgeber, der den Mozarts gegenüber stets äußerst wohlwollend gestimmte Salzburger Erzbischof Sigismund III. Christoph von Schrattenbach, unversehens verstarb und ihm der deutlich strengere Hieronymus Graf Colloredo nachfolgte. Nicht nur, dass dieser gegenüber den Mozarts auf die strikte Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten als Mitglieder der Salzburger Hofkapelle pochte, auch wurden ihnen fortan alle musikalischen „Tournee-Reisen“ strengstens untersagt. Dies machte den neuen Dienstherrn – der im Grunde, gemessen an den Maßstäben seiner Zeit, ein überaus aufgeschlossener und liberaler Charakter war – in den Augen der Familie Mozart zum Sinnbild aristokratischer Willkür und für den jungen Wolfgang Amadeus, der von einer Karriere als freier, international gefeierter Komponist träumte, zum Feindbild Nummer eins. 

Mozart als musikalisches „Wunderkind“, zusammen mit Vater Leopold und Schwester Maria Anna.

Wohl um den Münchner Hof nicht zu kompromittieren, gestattete Colloredo dem jungen Mozart 1781 dennoch – wenn auch mit deutlich bekundetem Unwillen – eine Reise in die bayerische Residenzstadt, wo dieser für die anstehende Karnevalssaison eine neue Oper, seinen Idomeneo, schreiben sollte; nach der 1775 entstandenen La finta giardiniera bereits Mozarts zweite Oper für diesen Hof und zudem die erste seiner sieben späten „Meisteropern“. Aus dem regen Briefwechsel, der in der Folge zwischen Wolfgang und seinem in Salzburg verbliebenen Vater entstand, wird zum einen die immense künstlerische Autorität erkennbar, die Leopold nach wie vor für seinen Sohn darstellte, gleichzeitig spiegelt sich in diesem aber auch die zunehmende Eigenständigkeit Mozarts gegenüber seinem einstigen Mentor wider.

Die Uraufführung des Idomeneo geriet für Mozart jedenfalls zu einem Sensationserfolg, der ihm in München großen Beifall und jede Menge Zuspruch einbrachte – für den mittlerweile verhassten Salzburger Dienst blieb dieser Erfolg allerdings ohne nennenswerte Folgen; ganz im Gegenteil: Durch ihn wurde Wolfgang (allen Ermahnungen des stets besorgten Vaters zum Trotz) eher noch weiter in seinem Entschluss bestärkt, den Dienst bei Hofe zu quittieren und sein Glück fortan als freier Künstler zu suchen. Doch anders als beispielsweise Schiller, wählte Mozart hierzu nicht die Flucht, sondern die offene Konfrontation mit seinem Dienstherrn: Mehrfach ersuchte er Colloredo um seine Entlassung, jedoch stets vergeblich. Schließlich entbrannte ein regelrechter Streit zwischen Mozart und seinem direkten Vorgesetzten bei Hofe, dem Grafen Karl Joseph von Arco, der den 25-jährigen Komponisten schlussendlich mit einem „Tritt im Arsch“ (Mozart) davonjagte und den aufmüpfigen Heißsporn damit von allen dienstlichen Verpflichtungen befreite. Leopold war entsetzt, Wolfgang überaus zufrieden – denn ebnete ihm dieser Rauswurf seinen Weg zu einer selbstbestimmten Existenz als freischaffender Komponist in der Reichshauptstadt Wien.

Der Kampf um Anerkennung

Voller Tatendrang übersiedelte Mozart noch im selben Jahr nach Wien, mietete sich eine luxuriöse Stadtwohnung an, heiratete Constanze Weber und unterrichtete den Vater in seinen Briefen fortwährend über künstlerische Erfolge und beträchtliche finanzielle Einnahmen. Der Ortswechsel und die Befreiung aus höfischen Diensten wirkten sich offenbar überaus positiv auf Mozarts Kreativität aus, der in einen regelrechten Schaffensrausch verfiel; Wolfgang schien endlich am Ziel seiner Träume angelangt zu sein. Oder etwa nicht …? – Tatsächlich zeichnet die vorangegangene Schilderung nur ein unvollständiges Bild von Mozarts realer Situation während seiner ersten Wiener Jahre, denn zur Wahrheit gehört auch: Aufsehen erregte Mozart in Wien zunächst vor allem als Klaviervirtuose, nicht aber als Opernkomponist. Und seinen Lebensunterhalt verdiente er vor allem als Klavierlehrer und Solist in seinen eigenen Konzerten und weniger durch das Verfassen neuer, bahnbrechender Kompositionen.

Im alten Wiener Burgtheater am Michaelerplatz wurden gleich mehrere Opern Mozarts uraufgeführt, so auch sein Figaro im Mai 1786.

Ein seltener Lichtblick in den Jahren von 1781 bis 1785 bildete der beachtliche Erfolg seines deutschsprachigen Singspiels Die Entführung aus dem Serail, das Mozart eigens für das von Kaiser Joseph II. protegierte Nationalsingspiel geschrieben hatte. Dieser unstrittige Erfolg brachte für den Komponisten allerdings zugleich zwei Wermutstropfen mit sich: Zum einen hatte er, dessen sehnlichster Wunsch es war, sich einen Namen als Opernkomponist zu verdienen, nur wenige Jahre zuvor seinem Vater gegenüber noch klar bekundet, lieber „seria statt buffa“, also ernste statt komische Opern schreiben zu wollen und für diese „welsch, nicht teutsch“, also die italienische und nicht die deutsche Sprache zu bevorzugen. Nun aber hatte Mozart mit seiner Entführung just ein komisches Werk in deutscher Sprache für die Wiener Hofbühne verfasst. Zum anderen war die italienische Oper in Wien zur damaligen Zeit fest in den Händen einer „italienischen Clique“ rund um den kaiserlichen Hofkapellmeister Antonio Salieri, und Mozart sollte in den folgenden Jahren mit zahlreichen Intrigen und Anfeindungen zu kämpfen haben, mit dem Ziel, ihn von der italienischen Oper fernzuhalten. Dieser allerdings ließ sich davon nicht entmutigen und machte sich ganz im Gegenteil sogar einen regelrechten Spaß daraus, seine Gegner mit gezielten Achtungserfolgen herauszufordern. So schrieb er etwa in einem Brief an Vater Leopold aus dem Jahr 1783, kurz nachdem zwei von ihm verfasste Einlagearien für die Aufführung einer Oper Pasquale Anfossis zum ersten Mal mit großem Erfolg gegeben worden waren, dass es ihm mit diesen gelungen sei, „feiner zu sein als unsere Feinde – denn ich habe ihrer genug“, und weiter: „die Herren Feinde sind ganz betroffen …“. Persönliche Rivalitäten, künstlerische Ambitionen sowie ein spürbar verletztes Ehrgefühl klingen aus derartigen Äußerungen heraus und machen deutlich, welche Triebfedern Mozart schlussendlich dazu veranlassen sollten, die Ärmel hochzukrempeln, die Ellbogen auszufahren und sein Schicksal abermals selbst in die Hand zu nehmen. 

Der Griff ins Wespennest

Mit trotziger Beherztheit fasste Mozart daraufhin den Entschluss, auch ohne einen offiziellen Kompositionsauftrag des Kaisers mit dem Verfassen einer neuen italienischen Oper zu beginnen. Da der Geschmack bei Hofe das komische Genre klar bevorzugte, sollte es eine Opera buffa werden. Bereits 1768, im Alter von gerade einmal 12 Jahren, hatte Mozart mit La finta semplice sein erstes Werk in dieser Gattung komponiert, dessen für Wien angedachte Uraufführung allerdings durch Intrigen verhindert worden war, und sein bislang letzter Beitrag auf dem Gebiet der Buffa (die bereits erwähnte La finta giardiniera) lag schon über zehn Jahre zurück. Auf der Suche nach einem geeigneten Libretto begann Mozart mit einer Vertonung der beiden Fragment gebliebenen Textbücher Lʼoca del Cairo und Lo sposo deluso, die seinen Anforderungen an einen anspruchsvollen Operntext allerdings nicht genügt haben dürften, da er die Projekte bereits nach kurzer Zeit wieder fallen ließ. In dieser Situation kam Mozart mit einem Mal der Zufall zu Hilfe: Genau wie er selbst hoffte, sich in Wien einen Namen als Opernkomponist machen zu können, so versuchte damals auch der Italiener Lorenzo Da Ponte, sich als Theaterdichter für die italienische Oper zu etablieren. Nach einer ersten (eher erfolglosen) Zusammenarbeit mit Salieri, gab dieser fortan Da Pontes Dichterrivalen Giambattista Casti den Vorzug. Und so beschlossen die beiden „Newcomer“ Mozart und Da Ponte, sich für eine neue Oper zusammenzutun.

Kongenialer Dichterkollege: Der Italiener Lorenzo Da Ponte schrieb neben Die Hochzeit des Figaro noch zwei weitere Operntexte für Mozart.

Auch wenn die Memoiren Da Pontes nach Erkenntnissen der modernen Forschung in weiten Teilen eher zweifelhaft erscheinen und die historische Wahrheit oft nur ungenau wiedergeben, so soll die Idee, die französische Komödie Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais in eine Oper zu verwandeln, laut diesen auf einen Vorschlag Mozarts zurückgehen: Beaumarchais, ein barocker Lebemann, Abenteurer und Freidenker, hatte sich – neben seiner Tätigkeit als Uhrmacher, Hofbeamter, Musiker, Verleger, Geheimagent und Waffenhändler – auch als Theaterautor versucht. Seine Komödie Der Barbier von Sevilla oder Die unnütze Vorsicht (1775) war ein derartiger Erfolg gewesen, dass sie 1782 von dem Italiener Giovanni Paisiello in eine Oper umgearbeitet worden war (ein Werk, das bereits kurz nach seiner Uraufführung in Sankt Petersburg mit ebenso überragendem Erfolg in Wien nachgespielt wurde und das noch 1816 den jungen Gioachino Rossini zu einer eigenen Vertonung von Beaumarchaisʼ Vorlage inspirieren sollte). Der Erfolg des Barbier von Sevilla veranlasste Beaumarchais indes dazu, eine direkte Fortsetzung zu seiner Komödie zu schreiben, und so entstand um das Jahr 1780 herum Die Hochzeit des Figaro. Auch mit diesem erregte Beaumarchais großes Aufsehen, allerdings vornehmlich durch dessen subversiven Charakter; denn im Figaro prangerte die Titelfigur offen den Geburtenadel und die Privilegien einer dekadent und korrupt gewordenen Kaste an. Auch wenn Beaumarchais ausdrücklich hervorhob, dass seine Komödie nicht die Ständegesellschaft selbst, sondern lediglich die (vereinzelten) Missbräuche von Vorrechten kritisiere, untersagten die französischen Zensurbehörden dennoch zunächst jede Aufführung des Stückes. Nach dem Scheitern einer Privataufführung im Hause des Grafen dʼArtois, die von König Ludwig XVI. am 13. Juni 1783 überraschend verboten worden war, wurde Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit schließlich am 27. April 1784 in der Comédie-Française mit beachtlichem Erfolg uraufgeführt – und sowohl adelige Kenner als auch bürgerliche Reformer bejubelten das Werk als Fanal einer neuen Epoche. Da sich eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht einstellte, gab schließlich auch der Hof seine Zurückhaltung auf, und der König und die Königin standen sogar selbst in einer Versailler Aufführung des Stückes auf der Bühne.

Etwas anders verhielten sich die Dinge hingegen in Wien: Dank der von Joseph II. eingeführten Pressefreiheit erschien die erste deutsche Übersetzung des Figaro aus der Feder von Johann Rautenstrauch noch vor dem französischen Original. Auch wenn der Kaiser eine szenische Aufführung des Stückes durch Emanuel Schikaneders Schauspieltruppe zunächst untersagt hatte, so führte Da Pontes persönliche Fürsprache wenig später dennoch zu der Erlaubnis, Die Hochzeit des Figaro als Oper aufführen zu dürfen. Dabei war es – Da Ponte dürfte in seinen Memoiren nicht übertreiben haben – äußerst schwierig, das hitzige Temperament Mozarts zu beschwichtigen, der den Griff in das Wespennest keineswegs scheute: „Das Stück sollte in aller Stille geschrieben und bei günstiger Gelegenheit den Direktoren oder dem Kaiser selbst vorgelegt werden. Mozart hatte Glück, da es der Hofoper gerade an neuen Stücken mangelte. Ich bot das Stück also dem Kaiser an. ‚Wie?‘, sagte er, ‚Sie wissen doch, dass Mozart zwar ausgezeichnet in der Instrumentalmusik ist, aber bis jetzt nur eine Oper geschrieben hat.‘ Außerdem habe er, der Kaiser, das Stück der Gesellschaft des Deutschen Theaters bereits verboten. Ich selbst erwiderte: ‚Ich habe alles weggelassen, was gegen den Anstand und die Sitte verstößt und ungehörig sein könnte in einem Theater, in dem die höchste Majestät selbst anwesend ist.‘“ Der Kaiser gab daraufhin die Erlaubnis, Mozarts Partitur dem Theaterkopisten zu übergebene und mit den Proben zu beginnen.

Plakat der Wiener Uraufführung von Le nozze di Figaro.

Eine unausgesprochene Kampfansage

In Beaumarchaisʼ Figaro hatte Mozart eine geeignete Vorlage und in Da Ponte den idealen Partner zur Umsetzung seines lange gehegten Vorhabens zur Schaffung eines revolutionären Gegenwartsstücks gefunden. Wie der Librettist in seinen Memoiren anmerkt, habe Mozart das Werk innerhalb von nur sechs Wochen fertiggestellt. Diese Angaben beziehen sich vermutlich auf den Zeitraum zwischen Mitte Oktober und Ende November 1785 und beinhalten nicht die Instrumentation. Da Ponte zufolge schrieb Mozart zuerst die geschlossenen Musiknummern nach inhaltlichen Aspekten gruppiert und anschließend die verbindenden Rezitative. Am 29. April 1786 trug er die Oper schließlich in sein persönliches Werkverzeichnis ein. Trotz erheblicher „Kabalen und Intriguen der Herren Feinde“ geriet die Wiener Uraufführung am 1. Mai 1786 zu einem triumphalen Erfolg für den Komponisten, der mit dieser Oper die Werke seiner Zeitgenossen – sowohl inhaltlich als auch stilistisch – weit hinter sich ließ; obgleich ein Rezensent der Wiener Realzeitung durchaus kritisch anmerkte, dass die Premiere derselben „nicht am besten von statten gieng, […] weil die Komposition sehr schwer ist.“ Dennoch waren die folgenden Aufführungen so erfolgreich, dass aufgrund der vielen vom Publikum eingeforderten Wiederholungen der Kaiser eingreifen musste und verfügte, dass fortan, um die Dauer der Vorstellungen nicht unbegrenzt auszudehnen, keine Musiknummer für mehr als eine Singstimme wiederholt werden durfte. Auch wenn es (wohl auf Betreiben der italienischen Clique um Antonio Salieri) bis Ende des Jahres insgesamt zu lediglich neun Wiener Aufführungen des Figaro kam, so feierte Mozart bereits wenige Monate später mit der Prager Erstaufführung seiner Oper einen umso nachhaltigeren Erfolg, der den Anlass zur Komposition des Don Giovanni liefern sollte.

Tatsächlich kann die Kunstleistung, die Mozart mit Die Hochzeit des Figaro vollbrachte, kaum hoch genug eingeschätzt werden. Eine vergleichbar vollkommene Verbindung aus Form und Inhalt, wie sie sich beispielsweise im Finale des 2. Aktes finden lässt, ist vielleicht niemals mehr erreicht worden und macht diese Oper bis heute zu einem – im besten Sinne des Wortes – epochalen Klassiker. Von den insgesamt 28 musikalischen Nummern in Mozarts Autograph, die zumeist durch Secco-Rezitative miteinander verbunden sind, stehen 14 Arien ebenso vielen Ensemble-Stücken gegenüber (die Ouvertüre sowie die Wiederholung des Chores Nr. 8 nicht mitgerechnet). Völlig neuartig am Figaro ist indes vor allem ein bis dahin unerreichtes Maß an musikalischer Psychologisierungskunst. Denn anders als in den Opern seiner Zeitgenossen dienten Mozart die Secco-Rezitative nicht bloß als notwendiger Träger einer Handlung, die immer wieder von kunstvoll ausgestalteten Arien und Ensembles unterbrochen wird. Im Figaro bilden Arien-, Ensemble- und Rezitativ-Passagen stattdessen eine dramaturgisch eng miteinander verknüpfte Linie, die in vielen Fällen sogar durch fließende Übergänge zwischen den einzelnen Instrumental- und Secco-Abschnitten noch weiter verstärkt wird. Zudem wird im Figaro permanent etwas vorbereitet, handelt jede der auftretenden Figuren in ihrer jeweiligen Situation aus mindestens zwei unterschiedlichen Antrieben oder Motivationen heraus.

Szene aus dem 1. Akt: Cherubino versteckt sich vor dem Grafen auf Susannas Sessel (Darstellung aus dem 19. Jahrhundert).

Mit Die Hochzeit des Figaro hatte Mozart es allen bewiesen – seinen Wiener Kritikern und Neidern ebenso, wie auch seinem stets skeptischen Vater und seinen alten Salzburger Feinden. Dabei verpasste er nicht die Gelegenheit, allen – mit geradezu kindisch-naivem Einfallsreichtum – eine „musikalische Nase“ zu drehen: Noch während er nämlich im Frühjahr des Jahres 1786 intensiv mit der Instrumentation des Figaro beschäftigt war, erhielt er den überaus lukrativen Eilauftrag, für ein höfisches Fest in der Orangerie von Schloss Schönbrunn ein kurzes Gelegenheitsstück – das einaktige Singspiel Der Schauspieldirektor – zu komponieren. In diesem recht dialoglastigen Dramolett (insgesamt umfasst die von Mozart dazu beigesteuerte Musik einschließlich Ouvertüre lediglich fünf Nummern) werden die Rivalitäten und Querelen des damaligen Opernbetriebs komödiantisch aufs Korn genommen. Das Finale bildet ein gemeinsamer Schlussgesang aller beteiligten Sänger, in dessen eröffnenden Versen die generelle Bedeutung künstlerischen Wetteiferns besungen wird: „Jeder Künstler strebt nach Ehre, / wünscht der Einzige zu sein. / Und wenn dieser Trieb nicht wäre, / bliebe jede Kunst nur klein.“ Abgeschlossen wird die Nummer durch eine kurze, energiegeladene Coda mit einem markanten Motiv, bestehend aus zunächst vier kurz aufeinanderfolgenden und dann nochmals zwei weiteren, stärker voneinander abgesetzten Stößen des Orchesters mit Pauken und Trompeten. Dasselbe Motiv findet sich auch an zwei Stellen des nur wenige Wochen später uraufgeführten Figaro wieder, nämlich sowohl am Ende von Bartolos Rache-Arie „La vendetta“ im 1. Akt als auch am Ende der Ouvertüre (welche Mozart laut Da Ponte zuallerletzt geschrieben haben soll). Künstlerischer Wettstreit und persönliche Genugtuung werden demnach in beiden Werken durch die Wiederholung desselben musikalischen Motivs von Mozart in eine thematische Beziehung zueinander gesetzt. Dies legt den Rückschluss nahe, dass dieser beim Komponieren – in fester Erwartung eines sicheren Erfolgs – die Aufführung seiner Oper gegen alle beschriebenen Intrigen als entschlossenen Gegenangriff und triumphalen Befreiungsschlag für sich selbst empfunden haben muss.

Der Rest ist Schweigen

Es unterstreicht die Vielschichtigkeit von Mozarts Genie, dass dieses ihn dazu in die Lage versetzte, die feinsten und subtilsten Anspielungen und Bedeutungsebenen in den Figaro (wie natürlich auch in viele seiner anderen reifen Werke) einzuflechten, ohne dass der große dramaturgische Bogen darunter zu leiden hatte. Wie aus den bereits zitierten Äußerungen Da Pontes ersichtlich geworden sein dürfte, hatten Mozart und er sich sehr darum bemüht, die literarische Vorlage zu ihrer Oper dergestalt zu bearbeiten, dass sie damit am Ende nicht in einen unüberwindbaren Konflikt mit den kaiserlichen Zensurbehörden geraten würden. Die wohl kritischste Textstelle in Beaumarchaisʼ Komödie stellt zweifellos Figaros großer Monolog im fünften Akt dar, dessen Beginn lediglich eine vergleichsweise harmlose Anklage der „herzlosen Frauen“ darstellt, die sich im weiteren Verlauf allerdings zu einer hemmungslosen und gesellschaftlich höchst brisanten Schimpftirade auf den Geburtenadel ausweitet. Das Libretto der Oper besitzt hingegen nur vier Akte – im 18. Jahrhundert, welches die Kunstfertigkeit literarischer Texte vor allem anhand der Einhaltung strenger formaler Regelwerke bemaß, ein deutlicher Hinweis an das Publikum, dass hier etwas abhandengekommen zu sein scheint; zumal für die meisten Buffo-Opern der damaligen Zeit entweder ein zwei- oder dreiaktiger Aufbau als obligatorisch angesehen werden darf.

Vor aller Welt bloßgestellt: der Graf am Ende von Beaumarchaisʼ aufrührerischer Komödie (Abb. nach Saint-Quentin, 1785).

In seiner großen Arie „Aprite un poʼquegli occhi“ im 4. Akt von Mozarts Oper umschreibt Figaro – ganz ähnlich wie schon sein französischsprachiges Pendant in Beaumarchaisʼ Vorlage – in nur wenig schmeichelhaften Worten die „herzlosen Frauen“: „Öffnet eure Augen, blinde, betörte Männer, und seht, was für ein grausames Spiel die Frauen mit uns treiben.“ Doch wo Beaumarchais eine Anklage der feudalen Gesellschaftsverhältnisse anschließen lässt, bricht das Libretto von Da Ponte mit einem Mal ab und zensiert sich dadurch quasi selbst – denn Figaros Schelte gegen das Feudalsystem bleibt in Mozarts Oper (scheinbar) aus, indem Figaro dort lediglich zu singen weiß: „Il resto nol dico, già ognuno lo sa“ („Den Rest sage ich nicht, denn jeder kennt ihn bereits“). Zeigt Mozarts Figaro hier also mehr Taktgefühl gegenüber dem weiblichen Geschlecht als sein französisches Gegenstück? – Keineswegs! Denn indem Mozart und Da Ponte ausgerechnet die politisch brisanteste Stelle aus Beaumarchaisʼ berüchtigter Komödie– nämlich Figaros großen Monolog im 5. Akt – zunächst nahezu wortwörtlich anzitieren, dann allerdings ihren Figaro sich selbst einen Maulkorb verpassen lassen, legen sie den Finger dadurch nur umso deutlicher mitten in eine Wunde, die für das damalige Publikum leicht und unmissverständlich zu dechiffrieren war; quasi der unausgesprochene „Elefant“ inmitten des Raumes. Mozarts musikalischer Umgang mit eben dieser szenischen Situation trägt zu einem derartigen Verständnis ihr Möglichstes bei, indem er Figaro über 14 Takte hinweg sein anklagendes Mantra geradezu gebetsmühlenartig wiederholen lässt: „Jeder kennt den Rest bereits, jeder kennt ihn, jeder kennt ihn …“.

Im anderthalb Jahre später entstandenen Don Giovanni sollte Mozart seine Adelskritik in nochmals deutlich unverhohlenerer Weise zum Ausdruck bringen; man denke etwa an jene Stelle im Finale des 1. Akts, an der er das gesamte szenische Personal mehrmals hintereinander ein rebellisches „Viva la libertà!“ („Es lebe die Freiheit!“) skandieren lässt oder an den offenkundigen Umstand, dass er seine Hauptfigur – den aristokratischen Tunichtgut Don Giovanni – am Ende seiner Oper als Strafe für dessen moralische Verfehlungen zur Hölle schickt. Außerdem ist es im Falle des Figaro – wie auch des Don Giovanni – durchaus bezeichnend, dass Mozart in beiden Werken seine männlichen Hauptpartien in denselben Stimmfächern singen lässt: Eigentlich hätte, den Opernkonventionen des 18. Jahrhunderts entsprechend, die Rolle des Grafen Almaviva nämlich für einen Tenor geschrieben werden müssen. Doch legte Mozart dessen Partie, genau wie die seines Kammerdieners Figaro, für einen Bariton an. Die Botschaft ist klar: Beide Antagonisten begegnen sich, trotz unüberwindlicher Standesunterschiede, auf gleicher Stimm- und damit Augenhöhe (eine Konstellation, die sich auch in dem zentralen Diener-Herren-Gespannt des kurz darauf komponierten Don Giovanni wiederfinden lässt). Somit erscheint die immer wieder geäußerte Behauptung, wonach sich Mozart im Figaro – bar jeder politischen Aussage – vornehmlich auf die musikalische Zeichnung „wahrhaftiger Charaktere aus Fleisch und Blut“, mit all ihren Stärken und Schwächen beschränkt habe, – quod erat demonstrandum – nachweislich falsch. Vielmehr ließ Mozart bereits in Die Hochzeit des Figaro eine nicht zu überhörende Portion Zeit- und Systemkritik anklingen; nur eben angepasst an die Anforderungen einer den strengen Maßgaben der kaiserlichen Zensurbehörden unterworfenen Hofbühne.

Nur revolutionär oder bereits Revolution?

Unmittelbar nach dem Tode Mozarts sah die Nachwelt seine letzten beiden Bühnenwerke La clemenza di Tito und Die Zauberflöte (beide 1791) als dessen größte Kunstleistungen an. Nur wenig später, in der Zeit der Romantik, galten dem Publikum vor allem die düsteren, dämonischen Zwischentöne des Don Giovanni als Ausdruck einer bis dahin ungekannten Meisterschaft, wodurch sich der Schriftsteller E. T. A. Hoffmann sogar zu dem vielzitierten Ausspruch hinreißen ließ, es handle sich bei dem Werk um die „Oper aller Opern“. Auch wenn sich in derart unterschiedlichen Werturteilen zeigt, wie jede Epoche und jede Generation in ästhetischen Fragen ihren ganz eigenen Standpunkt bezieht, so dürfte sich dennoch über alle Zeiten hinweg die Auffassung durchsetzen, dass der Figaro, wenn vielleicht auch nicht als die „Oper aller Opern“, so doch als das früheste Beispiel für ein vollwertig ausgestaltetes Musikdrama angesehen werden darf, in dem Text und Musik, Stil und Empfindung, Erzählung und Figurenzeichnung zu einer unauflösbaren Einheit verbunden sind. Durch subtile Anspielungen auf Beaumarchaisʼ umstürzlerische Vorlage sowie eine bahnbrechende Kompositionstechnik sprengte Mozart mit Die Hochzeit des Figaro nicht nur die engen Grenzen des gehobenen Unterhaltungstheaters der damaligen Rokoko-Gesellschaft, sondern wies zugleich weit voraus in eine musikalische Zukunft, die von Richard Straussʼ Der Rosenkavalier bis hin zu John Coriglianos The Ghosts of Versailles reichen sollte. Ein Werk des Umbruchs, ein Stück des stürmischen Drängens nach persönlicher Anerkennung und damit zugleich ein überzeitlich erfahrbares Sinnbild für das Aufbegehren des Individuums gegen das Establishment: Ein revolutionäres Stück also in einem vielfach zu interpretierenden Sinne.

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