Von Sinnen und Sinnhaftigkeit

Zwei weiß gekleidete Protagonisten, fremd anmutend, die der Zuschauer schon vor Beginn des Stücks auf der Bühne sieht, entledigen sich ihrer Zwangsjacken. Die Reise kann beginnen. Es wird eine Reise, deren Sinn sich zunächst nicht erschließt. Wahllos werden am Anfang, einem Countdown gleich, Zahlen heruntergezählt und auf eine Leinwand projiziert. Nicht etwa linear, nein, das Zählen folgt keiner Logik. Und dennoch setzt sich der Zug rasant in Bewegung. Ein optisches Spektakel bannt die mitreisenden Zuschauer. Rasant? Keineswegs: Denn schon bald wird deutlich, dass die Musik uns zwingt, langsamer zu werden. Die beständigen Wiederholungen kleiner musikalischer Muster, nur unwesentlich variiert, lassen den Drang der Passagiere, Ereignisse kausal zu erklären, langsam aber bestimmt erlahmen. Jetzt werden sie ihren eigenen Assoziationen überlassen.  Bei der Assoziation werden Gedanken, Gefühle und Erlebnisinhalte miteinander verknüpft.

Jetzt tut sich den Reisenden eine wundersame Welt auf. Akustische und visuelle Reize überfluten. Sätze, Wörter erinnern einerseits an Alltagserleben, bleiben dennoch ohne Sinn, sie werden fragmentiert. Farben werden kategorisch und allein bestimmten Bedeutungen zugeordnet. Der letzte Widerstand, die Suche nach der Sinnhaftigkeit der Reise wird gebrochen. Allein die Wahrnehmung des Augenblicks steht im Vordergrund.
Wahrnehmung ist die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen. An der Wahrnehmung sind sämtliche Sinnesorgane beteiligt: Augen, Gehör, Geruchssinn, Geschmack und Haut. Sinneseindrücke vergleicht das Gehirn mit bereits abgespeicherten Informationen und bewertet sie und setzt sie in einen individuellen Kontext. Es entsteht eine eigene, eine private Realität.

Die Passagiere geben sich dem beständigen Rhythmus hin, sind endlich sich und ihren Assoziationen selbst überlassen. In Trance? Trance ist ein Zustand, der durch Hypnose erzeugt werden kann. Die Umweltsignale verlieren an Bedeutung, es tritt eine tiefe Entspannung ein, gleichzeitig werden die Sinne extrem fokussiert. Die Zeit dehnt sich, verliert an Bedeutung, sie steht still.

Die Reise, Vorstellung endet nach gut dreieinhalb Stunden. Dreieinhalb Stunden Oper? So lang? Ach was ist schon Zeit! Sie ist und bleibt relativ.

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Hans Joachim Thimm ist Erster Oberarzt der Allgemeinen Psychatrie an der LWL Klink in Dortmund Aplerbeck. Als enger Berater hat Hans Joachim Thimm bei dem Musical "Next to Normal", bei dem es um eine manisch-depressive Frau geht, dem Leitungsteam und den Darstellern wertvolle Informationen und Einblicke in die Welt der psychischen Erkrankungen gegeben. Seitdem lässt ihn das Theater nicht mehr los - als ständiger Besucher und nach wie vor mit seinem Wissen über die menschliche Psyche als inspirierender Gesprächspartner. In lockerer Folge wird Hans Joachim Thimm auf dem Opernblog seine ganz spezielle Sichtweise auf einige Opernfiguren darstellen.

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