Fragment eines Lebens – Zur Szenischen Deutschen Erstaufführung von Kurtágs „Fin de Partie“

Fragment eines Lebens – Zur Szenischen Deutschen Erstaufführung von Kurtágs „Fin de Partie“

Als am 15. November 2018, nach mehreren Verzögerungen und Verlegungen von Zürich nach Salzburg, endlich die langerwartete Uraufführung von György Kurtágs Opernerstling Fin de Partie in Mailand über die Bühne ging, da war der „Debütant“ bereits stolze 92 Jahre alt. Ganze acht Jahre zuvor, anno 2010, hatte Kurtág mit den konkreten Arbeiten an seinem ersten, etwa zweistündigen Bühnenwerk – basierend auf Samuel Becketts gleichnamigem Drama aus dem Jahr 1957 – begonnen. Eigentlich, so gab der Komponist einmal im Gespräch mit Regisseur Ingo Kerkhof freimütig preis, habe er bis zum Ende seines Lebens an seiner Oper weiterarbeiten wollen. Doch auf Drängen seiner Ehefrau Márta hin – die ihm, bis zu ihrem Tod im Jahr 2019, stets Muse und schärfste Kritikerin zugleich gewesen war – konnte sich Kurtág schließlich dazu durchringen, seine Arbeit an (oder vielmehr: sein Ringen mit) Becketts Text vorerst zu beenden und sein Werk als unvollendetes Fragment dem Urteil der musikalischen Öffentlichkeit zu übergeben; denn sollten hierdurch, in den Worten Kurtágs, viele wichtige Szenen aus Becketts Drama unvertont liegenbleiben.

György Kurtág (2014) © Lenke Szilágyi / wikisource

Auch wenn die Veröffentlichung dieses „musikdramatischen Torsos“ also keineswegs der ursprünglichen Intention Kurtágs entsprochen haben mag, so bildet das Libretto der nunmehr vorliegenden Oper dennoch einen dramaturgischen Extrakt der Beckettschen Textvorlage, der in gewisser Weise wiederum dem steten Bemühen des Komponisten um musikalische Verdichtung in seinen eigenen Werken zu entsprechen scheint. Denn hat Kurtág in Fin de Partie zu einem ganz eigenen Opernstil gefunden, der tief in seinem kompositorischen Schaffen verwurzelt ist. Wolfgang Sandner beschrieb dessen musikalisches Idiom einmal treffend als ein „Minimum an Tönen und ein Maximum an Ausdruck“: Indem Kurtág unermüdlich und bisweilen viele Jahre lang an seinen Werken feilt, kommt er allmählich dem nahe, was er als „Wahrheit“ betrachtet. Auf diesem Weg bringt der Komponist meisterliche Klangessenzen hervor, bei denen jeder Ton punktgenau an der jeweils richtigen Stelle steht.

In der Tat hat sich wohl kaum ein anderer Komponist der Gegenwart in seinen Werken derart um äußere Verdichtung bemüht wie der in Rumänien geborene Spross ungarischer Eltern. Fin de Partie, das bis dato längste Werk des mittlerweile 97-jährigen Komponisten, beruht dabei keineswegs rein zufällig auf Becketts gleichnamigem Drama. Kurtág, der Becketts Stück im Jahr seiner Uraufführung in Paris gesehen hatte, äußerte noch Jahre später, dass dieses Ereignis eine „lebenslange Wirkung“ auf ihn ausgeübt habe. Seine konzise Partitur bringt Becketts Text in gleich zweierlei Hinsicht zum Klingen: Einerseits mit ihren bisweilen ins Ariose ausgreifenden Singpartien, die der Komponist dem französischen Sprachduktus des Originals akribisch „abgelauscht“ hat, andererseits mit teils geradezu illustrativen, die szenischen Vorgänge „ausmalenden“ Klanggesten des Orchesters – die jedoch stets subtil genug bleiben, um nicht ins Comichafte abzugleiten.

Leonardo Cortellazzi (Nagg), Frode Olsen (Hamm), Ks. Morgan Moody (Clov) und Ruth Katharina Peeck (Nell) bilden das Dortmunder Ensemble von Fin de Partie.

In Fin de Partie sind vier handelnde Personen auf engstem Raum miteinander eingesperrt. Dieser kammerspielartigen, klaustrophobischen Konstellation auf der Bühne steht der gewaltige Klangapparat eines großbesetzten Orchesters gegenüber. Doch wird dieses von Kurtág – für Kenner seines Œuvres nur wenig überraschend – nicht etwa für gewaltige, „opernhafte“ Gesten verwendet, sondern tritt klanglich in fein destillierten, stetig wechselnden Kleinbesetzungen hervor, was dem Werk einen eher kammermusikalischen Charakter verleiht. Auf den exakten dramatischen Ausdruck hin kalkuliert, verhilft das Orchester Becketts Bühnenfiguren somit zu einem eigentümlichen Klangleben – obwohl deren sehnlichster Wunsch doch eigentlich das Sterben ist.

Kurtág selbst sagte einmal, er habe nie etwas anderes als seine eigene Biografie vertont. Anrührend muten in diesem Lichte seine Schilderungen an, in denen er das glückliche Bild vom Zusammenleben mit seiner geliebten Frau Márta zeichnet, wie sie stets als sein „Musen-Gendarm“ neben ihm am Klavier saß, um sich seine neuesten Kompositionen vorspielen zu lassen, aber auch, wie er sich seit ihrem Dahinscheiden mehr und mehr nach seinem eigenen Tode sehnt. Die – in einem durchaus mehrfach zu verstehenden Wortsinne – Verdichtung auf engstem Raum, das menschliche Mit- und Nebeneinander am Ende eines langen, ereignisreichen Lebens, die Rückschau auf längst vergangene, glücklichere Tage sowie die Sehnsucht nach einem baldigen Tod sind Motive, die die Figuren aus Becketts Drama – insbesondere das „alte Paar“ Nagg und Nell – mit dem Wirken und Leben des Komponisten verbinden. Und nicht zuletzt bleibt es, wie bereits festgestellt, vor allem dem fortwährenden Insistieren Mártas zu verdanken, dass Kurtág seine Arbeiten an Fin de Partie überhaupt zu einem ersten, wenn auch zunächst nur vorläufig gedachten Abschluss gebracht hat. Zwar weißen die zwölf Szenen der „Mailänder Fassung“ mit Prolog und Epilog einen klaren Anfangs- und Endpunkt auf, jedoch prangte bereits über dem Titel der 450 Seiten starken Uraufführungspartitur der rote Sperrvermerk des Komponisten „Versione non definitiva“ – es sollte also ausdrücklich eine zweite, erweiterte Fassung des Werkes folgen.

Márta und György Kurtág © jpc

Kurtágs Plänen, eine Vertonung der liegengelassenen Szenen von Becketts Text zu einem späteren Zeitpunkt nachzuliefern, wurde durch den nur wenige Monate nach der ersten Mailänder Aufführungsserie von Fin de Partie eingetretenen Tod seiner Frau allerdings ein jähes (vielleicht nur vorläufiges?) Ende gesetzt. Denn an eine Fortsetzung dieses ehrgeizigen Vorhabens war, laut Kurtág, unmittelbar nach dem für ihn so erschütternden Verlust nicht mehr zu denken – der Fragmentcharakter mutierte zur definitiven Form. Es scheint ein westliches Merkmal der musikalischen Postmoderne zu sein, dass sie sich jeden Totalitätsanspruch im Hinblick auf ihre eigenen Werke versagt. Der vielfach an seine Stelle tretende Fragmentarismus – nach Justus Fetscher „Aufbruchssignal der Moderne“ – könnte in diesem Sinne auch für Kurtág, der sich in seinen eigenen Arbeiten immer wieder mit den Dimensionen des Fragmentarischen auseinandergesetzt hat, zu seinem ganz persönlichen, biografisch motivierten Endspiel werden …

Nach ihrer Mailänder Uraufführung am 15. November 2018 war Kurtágs Fin de Partie im März 2019 auch an der Nederlandse Opera Amsterdam sowie im April und Mai 2022 an der Opéra Garnier Paris zu sehen, außerdem in konzertanter Form am MüPa Budapest, an der Vlaamse Opera Antwerpen, in der Kölner Philharmonie, der Elbphilharmonie Hamburg sowie bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall, London. Mit Ingo Kerkhofs Neuinszenierung an der Oper Dortmund erlebt das Werk somit nicht nur seine Szenische Deutsche Erstaufführung, sondern zugleich seine Zweit-Inszenierung seit der Mailänder Uraufführungsproduktion. 

Titelbild: Thomas M. Jauck

This article was written by

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert