„Es zählt nur das Jetzt“ – Pride Night Party im Opernhausfoyer

„Es zählt nur das Jetzt“ – Pride Night Party im Opernhausfoyer

Five hundred, twenty five thousand, six hundred minutes.
Five hundred, twenty five thousand moments so dear.
Five hundred, twenty five thousand, six hundred minutes.
How do you measure, measure a year?

In daylights, in sunsets,
In midnights, in cups of coffee,
In inches, in miles,
In laughter, in strife,

In five hundred, twenty five thousand, six hundred minutes.
How do you measure a year in a life?

Kaum war der letzte Ton des Rockmusicals RENT verklungen, da hielt es das Publikum schon nicht mehr auf seinen Sitzen. Mit lauten Jubelrufen beklatschte es das mitreißende Ensemble des Casts. Als dann als Zugabe der Ohrwurm „Seasons of Love“ gegeben wurde, hielten manche ihre Handys mit den hellen Displays wie Knicklichter in die Höhe, andere klatschten rhythmisch dazu oder sangen lauthals mit. Der Song verhandelt die Frage, in welcher Einheit sich der Wert eines Jahres bemessen lässt. Die Antwort: in Liebe. Und die war im Dortmunder Opernhaus an diesem Tag sehr deutlich zu spüren. Der Applaus wollte nicht enden und alle wussten: Diese Vorstellung war in vielerlei Hinsicht eine ganz besondere. Zum einen war es die B-Premiere, in der Dominik Hees zum ersten Mal nach langer und besiegter Krankheit endlich wieder, als Mark Cohen, auf der Bühne stand. Zum anderen dominierte ein Accessoire die Kleidung vieler Menschen: eine kleine rote Schleife. Denn es war der 1. Dezember – traditionell der internationale Welt-AIDS-Tag. Ein Tag, der rund um den Globus auf das Thema AIDS aufmerksam machen möchte und zu Solidarität mit HIV-Infizierten und ihren Angehörigen aufruft. Die Oper Dortmund schloss sich an! Und sie ließ nicht nur ein thematisch passendes Musical an diesem Tag spielen, sondern lud darüber hinaus zur anschließenden Pride Night Party im Foyer ein. Und dort war ordentlich was los!

Der Raum strahlte in den bunten Farben der Pride-Flagge, durchzogen von dem Geruch frischer Zuckerwatte. Tatsächlich wartete nahe der Foyertreppe eine Zuckerwattemaschine auf Naschkatzen und -kater, die ihren Appetit nach süßem, klebrigem Flausch in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen stillen wollten. Und die Durstigen lockte neben der Foyerbühne eine nigelnagelneue Cocktailbar mit Drinks, die nach den Hauptfiguren aus RENT benannt waren. Mit einem Angel oder einer Mimi in der einen und einem Zuckerwattestab in der anderen Hand ging es dann auf die äußerst belebte Tanzfläche, auf der die Gäste ausgelassen zu dem Set von Drag DJane Lana Delicious tanzten – und die funkelte in ihrem roten Glitzerkleid noch tausendmal heller als der geschmückte Tannenbaum neben ihr auf der Foyerbühne. In einer ruhigen Minute vor ihrer Show war Zeit für ein kleines Interview.      

Hallo und schön, dass du heute hier bist! Mit welchen Pronomen darf ich dich ansprechen?

Ich bin nicht binär, aber „er“ oder „sie“ ist beides in Ordnung.

Wie lange bist du schon Drag DJane?

Schon sehr lange! Ich habe mich als Drag Queen in den 90ern erfunden. Davor habe ich aber schon als DJ gearbeitet.

Wie bist du zum Drag gekommen?

Weil es einen Mangel gab. Üblicherweise waren ja nur Männer und Frauen DJs oder DJanes. Und dann kam in den 90ern mit den Drag Queens ein neues Phänomen in die Welt. Die waren die Punks der damaligen Zeit. Ein befreundeter DJ von mir hat mich dann darauf gebracht, dass das in der deutschen DJ-Szene fehlt und mir gesagt: Trau dich! Also habe ich damit angefangen und mache das bis heute.

Wie würdest du deinen DJ-Stil bezeichnen?

Ich bin sehr flexibel, ein sogenannter kommerzieller DJ. Ich werde nicht nur als queere DJane für queere Partys gebucht, sondern auch als DJ für beispielsweise die Firma Schwarzkopf oder für Hochzeiten. Vor kurzem war ich auf dem Geburtstag einer 70jährigen Frau gebucht. Ich lasse mich auch nicht gern auf ein Genre festlegen. Musik ist mein Leben und ich habe auch keine Grenze, was das angeht.

Hast du eine persönliche Verbindung zum Musical RENT?

Ich kenne die Geschichte auf jeden Fall sehr gut und sie hat auch etwas mit mir zu tun. Ich bin in Brasilien aufgewachsen und hatte dort in den 80er Jahren mein Coming Out. Meine Familie hat mich in meiner Homosexualität aber nicht unterstützt. Deshalb und wegen der HIV-Problematik bin ich dann nach Deutschland ausgewandert. Es war eine schwierige Zeit für mich. Aber ich wollte meine Freiheit – und hier in Deutschland habe ich sie gefunden.

Möchtest du uns noch etwas mit auf den Weg geben?

Es ist gut, dass wir heute in einer Zeit leben, in der es kein so großes Stigma mehr ist, AIDS zu haben oder generell queer zu sein. Aber die neue Generation darf auch nicht vergessen, dass wir diese Errungenschaft vielen Betroffenen zu verdanken haben, die dafür ihr Leben geopfert haben. Ich für meinen Teil bin sehr dankbar dafür, dass ich lebe – und zwar so, wie ich es möchte.

Bewegende Worte an einem bewegenden Abend. Während also Lana Delicious den Tanzwütigen zwischen funky Versionen von Take on me, Hit me Baby one more Time und 99 Luftballons die „Time of their Life“ bescherte, gab es im Opernfoyer noch mehr zu erkunden. Hinter der Tanzfläche befanden sich drei weitere Stände: Der Marketing-Stand des Theaters, an dem Geld für die Dortmunder Aidshilfe, den Kooperationspartner der Pride Night Party, gespendet werden konnte, sowie Stände des aidshilfe Dortmund e. V. selbst und auch von der LSBTIQ* Koordinierungsstelle der Stadt Dortmund.

Den Stand der Koordinierungsstelle zierten zwei Pride-Flaggen, auf denen humorvolle Giveaways zum Gespräch mit den Mitarbeitenden einluden: Verschiedene Aufkleber mit den Statements „Ich liebe lesbisch“ oder „Ich liebe queer“, Kondome, Kugelschreiber oder bunte Ohrstöpsel – die man aber „bei der wunderbaren Musik gar nicht gebraucht hat.“ Die Koordinierungsstelle setzt sich für Antidiskriminierung und Aufklärung im Bereich LSBTIQ* ein, konzeptioniert Veranstaltungen und ist ein Bindeglied in die städtische Community. Damit sind sie nicht allein – direkt gegenüber waren die Kolleg*innen vom aidshilfe Dortmund e. V. an einem Stand mit einzeln verpackten Kondomen und dem frechen Spruch „Fickt euch!“ sowie pinke Lollis mit „Vorurteile? Leck mich!“. Direkt daneben zwei Glücksräder, an denen man seinen eigenen Drag-Namen „erdrehen“ konnte – was natürlich sofort gemacht werden musste. Als frischgebackene Madame Glitch ging es dann ins Gespräch mit der Aidshilfe.

Hi! Ich bin Madame Glitch, seit Neuestem. Wer bist du?

Ich bin Tim und arbeite ehrenamtlich bei der Dortmunder Aidshilfe.

Was genau macht die Dortmunder Aidshilfe?

Vieles! Wir sind ein Verein von etwa 70 Mitarbeitenden. Wir leisten Aufklärungsarbeit an Schulen, in der Schwulenszene oder wir betreiben die Drogenhilfeeinrichtung kick. Zudem bieten wir eine Menge Selbsthilfeangebote und Betreuung für HIV-Positive und machen Präventionsarbeit in ganz verschiedenen Zielgruppen: Schwule, bisexuelle, queere Männer, Sexarbeiter*innen oder Migrant*innen.

Was ist der aktuelle Stand bei HIV-Erkrankungen?

In der Tendenz sinken die Infektionszahlen. Aber die Anzahl der Menschen, die mit HIV leben, steigt – das klingt paradox, ist aber ein gutes Zeichen! Wir werden Neuinfektionen nie ganz verhindern können, aber die medizinische Behandlung ist so gut, dass diese Menschen nicht mehr vorzeitig sterben müssen. Vor allem in Zentraleuropa ist HIV gut behandelbar und Menschen, die in Behandlung sind, stecken auch niemanden mehr an, da das Virus dann nicht weitergegeben wird. Was aber nach wie vor problematisch ist, sind die mit der Erkrankung verbundenen Vorurteile und die Ausgrenzung. Erschreckenderweise vor allem bei Ärzten und Ärztinnen – obwohl man gerade dort annehmen sollte, dass sie Bescheid wissen.

Man müsste also mal Aufklärung in Praxen machen.

Es ist leider schwer, diese Zielgruppe zu erreichen …

Was ist das eigentlich für eine schwarze Stellwand hier, die mit Zetteln vollgepinnt ist?

Damit wollen wir Gespräche anregen. Auf den Zetteln steht: „Mit HIV und AIDS verbinde ich …“ – das können die Leute dann aufschreiben und wir kommen darüber ins Reden. Gleichzeitig erkennt man daran auch den Wissenstand der Personen und kann vielleicht den ein oder anderen Punkt noch mitgeben.

Möchtest du von dir aus noch etwas sagen?

Ja, zwei Dinge. Zum einen: Ich möchte alle einladen, bei uns im caféplus vorbeizuschauen. Das caféplus richtet sich an Menschen mit und ohne HIV, Ehrenamtliche und generell an Menschen mit Interesse an unserer Arbeit. Hier findet Austausch und Begegnung in vielfältigsten Gruppen und Projekten statt: in Form von Selbsthilfegruppen, thematischen Veranstaltungsreihen oder ehrenamtlichen Projekten, z. B. die Planung des Welt-Aids-Tages oder der Verkauf der Teddybären. Unsere Besucher*innen können sich auch gerne selbst einbringen und ihre eigenen, empowernden Ideen umsetzen. Also kommt gern auf uns zu! Zum anderen: Die Vorstellung von RENT war richtig toll! Ich habe selten erleben, dass alle am Ende so schnell gestanden und applaudiert haben. Das war atemberaubend!

Fotos: Dany Handschuh

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