10 Dinge, die Sie über Quartett wissen sollten

10 Dinge, die Sie über Quartett wissen sollten


Am 18. April 2019 erlebte die intime Zwei-Personen-Oper Quartett in der Regie von Ingo Kerkhof am Theater Dortmund ihre Deutsche Erstaufführung. Hier können Sie sich auf die Schnelle mit ein paar wesentlichen Informationen zu dem hochspannenden und vom NRW Kultursekretariat geförderten Werk versorgen, bevor Sie eine der wenigen verbleibenden Vorstellungen besuchen!

1) Wie kommt es zu dem Titel?

Bei dem Titel Quartett denkt man sofort an die Zahl Vier – sei es nun in Form des populären Kartenspiels oder aber der beliebten Streicherformation. Trotzdem stehen in Luca Francesconis Oper nur zwei Personen auf der Bühne. Der Titel ergibt sich jedoch daraus, dass die beiden Figuren Marquise Merteuil und Vicomte Valmont im Spiel in zwei weitere Rollen schlüpfen. Auf diese Weise kommen noch die Madame Tourvel und die kleine Volanges ins Spiel – und plötzlich sind dann doch vier Personen in das Intrigengeflecht verstrickt.

2) Heimspiel für den Regisseur Ingo Kerkhof

© Thomas Jauck

Der Regisseur Ingo Kerkhof inszeniert seit gut 30 Jahren landauf, landab in sämtlichen bedeutenden Theatern, doch erst jetzt ist er mit Quartett am Theater Dortmund in seiner Heimat zu erleben. Geboren und aufgewachsen im Sauerland ist er noch heute eng mit diesem Landstrich verbunden, auch wenn er mittlerweile seit vielen Jahren in Berlin lebt. Nachdem er Philosophie, Politologie und Literaturwissenschaften in Frankfurt a.M. und Berlin studierte, ist er gleichermaßen erfolgreich im Schauspiel und in der Oper tätig – für ein Stück wie Quartett von großem Vorteil. Im Laufe der letzten Jahre hat sich Ingo Kerkhof immer mehr als Spezialist für zeitgenössisches Musiktheater etabliert, wie nicht zuletzt der große Erfolg seiner Zweitinszenierung der Oper Benjamin von Peter Ruzicka am Theater Heidelberg unter Beweis stellt. Am selben Haus begeisterte er zuvor bereits mit Rihms Dioynsos und Haas Morgen und Abend und überzeugte an der Staatsoper Berlin mit seiner Lesart von Salvatore Sciarrinos Lohengrin. Auch mit seiner detailverliebten Inszenierung von Luca Francesconis Quartett landete Ingo Kerkhof erneut einen Coup – so beschreibt zum Beispiel Die Deutsche Bühne seine Personenführung als akribisch und nie ungefähr.

3) Ein einziges Spiel

Der Mann spielt eine Frau, die Frau spielt einmal den Mann, einmal ein junges Mädchen – in Quartett werden die Rollen und Kostüme zumindest gefühlt schneller gewechselt als die Stühle beim Reise-nach-Jerusalem-Spiel. Die Kostüme (Inge Medert) der Akteure helfen zwar bei der Orientierung, doch letztendlich ist es eigentlich gar nicht so wichtig, in welcher Rolle die beiden Spieler gerade stecken. Viel wesentlicher ist der Grund ihres Spiels: Sie spielen, um die Leere in ihrem Leben zu füllen. Ein Leben, das vom Nihilismus geprägt ist, in dem das trieborientierte Individuum im Mittelpunkt steht und alles erlaubt ist. Im Zentrum dieses Kosmos bewegt sich die Merteuil, und aus diesem findet sie keinen Ausweg. Im sich ständig wiederholenden Spiel gefangen suchen beide Protagonisten durch Rollenspiel und Grenzüberschreitungen nach Antworten. Die Merteuil fasst das Dilemma zusammen: „Die Qual zu leben und nicht Gott zu sein. Ein Bewußtsein haben und keine Gewalt über die Materie.“ Letztlich wird ihnen eigentlich nur die Leere ihres Daseins bewusst – ein Teufelskreis.

Vicomte Valmont: Christian Bowers, Marquise Merteuil: Allison Cook © Thomas Jauck

4) Allison Cook & Christian Bowers – die Stars von Quartett

Bei einem Zwei-Personen-Stück liegt der gesamte Fokus des Abends – wie soll es auch anders sein – auf zwei Personen. Ein solches Kammerspiel erfordert von den beiden Darstellern eine besondere Präsenz und Intensität. Mit Allison Cook und Christian Bowers sind an der Oper Dortmund zwei Künstler zu erleben, die nicht nur über außerordentliche stimmliche Möglichkeiten verfügen, sondern auch große schauspielerische Fähigkeiten besitzen. Die schottische Mezzosopranistin Allison Cook kann mittlerweile als eine der führenden Sängerinnen für Zeitgenössische Musik bezeichnet werden – so ist die Partie der Salome in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss, mit der sie in der Spielzeit 2018/19 an der Englischen Nationaloper London debütierte, eine der „ältesten“ Rollen in ihrem Repertoire. Internationale Erfolge feierte sie insbesondere mit der Marquise Merteuil, die sie bereits in der Weltpremiere von Luca Francesconis Quartett an der Mailänder Scala sang. Auch bei den Folgevorstellungen am Gran Teatre del Liceu (Barcelona), Théâtre Royal de la Monnaie (Brüssel), Teatr Wielki (Warschau), Teatro Colón (Buenos Aires) ebenso wie bei den Wiener Festwochen verkörperte sie die anspruchsvolle Partie. Der junge amerikanische Bariton Christian Bowers gibt mit seiner Darstellung des Vicomte Valmont sein Deutschlanddebüt. Auch er arbeitet immer wieder eng mit führenden Künstlern der zeitgenössischen amerikanischen Musik zusammen, wie zum Beispiel mit seinem langjährigen Freund Lee Hoiby, ebenso wie mit Rachel Portman, Jake Heggie, Lori Laitman, Huang Ruo, Theodore Morrison und Gene Scheer. Neben Engagements an der Washington National Opera, der Lyric Opera in Chicago und der Opéra National de Bordeaux ist Christian Bowers regelmäßig am Teatru Manoel in Malta zu Gast.

5) Heiner Müller meets Laclos

Als Vorlage für Francesconis Libretto diente das 1981 veröffentlichte, gleichnamige Schauspiel von Heiner Müller. Der Komponist nahm sich eine englische Übersetzung des Textes und kürzte diesen um ein gutes Stück ein. Auf den ersten Blick mag es vielleicht geradezu wie die Verstümmelung eines Nationalheiligtums wirken – zumindest für die leidenschaftlichen Anhänger des provokativen DDR-Autors –, jedoch ermöglicht die dadurch entstehende Distanz einen klareren Blick auf das Werk. Auch Heiner Müller hat sich die Inspiration für seinen Text in der Vergangenheit gesucht, nämlich in dem 200 Jahre zuvor veröffentlichten Briefroman Gefährliche Liebschaften von Laclos. Dieser Skandalroman wurde übrigens auch schon mehrfach verfilmt, u. a. von Roger Vadim mit Jeanne Moreau und Gérard Philipe (1959), von Stephen Frears mit John Malkovich, Glenn Close, Michelle Pfeiffer, Uma Thurman und Keanu Reeves (1988), als Valmont von Miloš Forman, mit Colin Firth, Annette Bening, Meg Tilly und Henry Thomas (1989) oder auch als Cruel Intentions (dt. Eiskalte Engel) von Roger Kumble mit Sarah Michelle Gellar, Ryan Phillippe und Reese Witherspoon (1999).

6) Der Komponist: Luca Francesconi

Der italienische Komponist Luca Francesconi ist einer der gefragtesten Komponisten seines Landes. Er studierte unter anderem bei den Größen der Neuen Musik Azio Corghi, Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio, die sein kompositorisches Schaffen auch maßgeblich prägten. Während Corghi für sein maßgebliches Opernschaffen bekannt ist, gelten Stockhausen und Berio als Pioniere der elektronischen Musik. Diese beiden Einflüsse machen sich deutlich in Francesconis Œuvre bemerkbar – sowohl in seinen mittlerweile acht Opern (eine neunte ist in Planung), als auch im Einsatz elektronischer Materialien. Bereits 1990 hatte er das AGON gegründet, ein Zentrum für Musikforschung und -produktion unter Verwendung von Neuen Technologien in Mailand. xannonce.ch Seine langjährige Erfahrung floss auch in Quartett ein: Francesconi verwendet hier verschiedene Tonspuren (sowohl im Vorfeld aufgezeichnete als auch live generierte), die entweder eine spannende Geräuschkulisse hinzufügen, oder direkt akustisch verfremdet werden können.

7) Das IRCAM

Sound Engineer Sébastien Naves © Jeremy Heiß

Für die Liveklangbearbeitung der verschiedenen Tonspuren sowie für die Entwicklung der ausgeklügelten Lautsprecherinstallation im Saal zeichnen die Kollegen vom IRCAM verantwortlich. Das in Paris beheimatete Institute for Research and Coordination in Acoustics/Music ist eines der weltweit größten öffentlichen Forschungszentren, das sowohl dem musikalischen Ausdruck als auch wissenschaftlicher Forschung verpflichtet ist. Die Herausforderungen, die Quartett den Sound Engineers des IRCAM ebenso wie der Tonabteilung der Oper Dortmund stellt, erfordern auch tatsächlich einen großen Erfahrungsschatz. Es mussten allein gut 300m Kabel verlegt und 12 Kanalausgänge eingerichtet werden. Doch was ist genau die Aufgabe der beiden Mitarbeiter, die während der Vorstellung in der 16. Reihe an ihren komplizierten Apparaten sitzen? Grob gesagt fangen sie die Klänge der Instrumente sowie der beiden Sänger über Mikrophone ein, mischen sie live und verstärken sie durch das Soundsystem. Differenzierter betrachtet lässt sich ihre Tätigkeit in zwei Kategorien einordnen:

A) Real-time sound processing. Die Instrumente im Graben werden zunächst auf einen Computer geleitet, der die implementierte dynamische, spektrale oder zeitliche Umgestaltung des Klanges vornimmt. Auf diese Weise kann man die Klangfarben der Instrumente verändern. Nach der Umgestaltung wird das Signal zurück zum Mischpult gesendet, von wo es über die Lautsprecher in den Raum gespielt wird. Diese Aufgabe übernehmen am IRCAM die darauf spezialisierten R.I.M.s (= Réalisateur en Informatique Musicale), die Seite an Seite mit den Tontechnikern arbeiten. Für gewöhnlich betreuen die R.I.M.s auch schon während der Entstehung einer Partitur den Komponisten und beraten ihn in elektronischen Fragen.

B) Multichannel sound diffusion. Diese Technik findet heute in jedem Kino oder auch bei Heimsystemen Anwendung. Das IRCAM ist jedoch auf die Konzeptionierung, Umsetzung und Leistungssteigerung von Systemen spezialisiert, die die Standards der Multichannel-Audioformate überschreiten. Dies beginnt bei „einfachen“ oktophonischen System (= ein System von acht Lautsprechern) und geht bis zu einer massiven 3D-ambisonic-Kuppel, die durch den Einsatz von 64 oder gar 128 Lautsprechern generiert wird. Für Quartett wurden 14 Lautsprecher im gesamten Großen Haus der Oper Dortmund installiert. Für die Umsetzung wurde am IRCAM eine besondere Software namens „Spat“ entwickelt, mit der Klänge in Echtzeit im Raum bewegt oder bereits erstellte Klang-Bewegungsabläufe abgerufen werden können.

8) Aus dem Nähkästchen geplaudert …

Generell ist davon auszugehen, dass bei der Kreation eines neuen Werkes die künstlerischen Absichten des Schöpfers ausschlaggebend sind. Manchmal kann es für gewisse Entscheidungen aber auch ganz pragmatische Gründe geben. In der ursprünglichen Planung von Luca Francesconi hätte es in Quartett zwei Liveorchester geben sollen: ein kleines Orchester, das Orchestra piccola im Graben, sowie ein großes Fernorchester, in einem angrenzenden Saal erklingen sollte. Doch schnell wurde klar, dass diese gigantische Besetzung für alle Vorstellungen und die geplanten weiteren Produktionen jegliches Budget sprengen würde – und so machte man aus der Not eine Tugend und konzipierte das im Vorhinein aufgenommene Fernorchester, dessen Tonspur nun integraler Bestandteil der Partitur ist.

9) Ein Baum auf der Bühne?

© Thomas Jauck

Ein Symbol für das Paradies, die Insel der Glückseligen, der Baum der Erkenntnis, die Trauerweide als Zeichen der Traurigkeit oder in China gar für sexuelles Verlangen – das zentrale Element im Bühnenbild von Anne Neuser bietet einen großen Assoziationsspielraum. Mal geheimnisvoll, mal romantisch, mal erdend, mal transzendent erscheint der große Baum mit seinen ausladendenden Zweigen und bietet so eine traumverlorene Kulisse für das schillernde Werk. Sieht man ihn in seiner ganzen prachtvollen Größe auf der Bühne stehen, so mag man gar nicht auf die Idee kommen, dass er in sorgfältiger Handarbeit aus vielen kleinen Einzelteilen gefertigt wurde. Aber die wunderschön gearbeiteten Zweige bestehen tatsächlich aus insgesamt gut 1.500m Hanfseilen, die von der Dekoabteilung, den Plastikern sowie den Malern gefärbt und schwer entflammbar präpariert wurden. Danach wurden die Seile aneinandergenäht und an Eisenringe gebunden. Die vielen kleinen Weidenblättchen wurden ebenfalls schwer entflammbar gemacht und dann mit Tape an die Seile geklebt.

10) Ein Hund auf der Probe?

© Thomas Jauck

Es kommt zwar nicht sehr häufig vor, aber hin und wieder wird ein Produktionsteam auch um einen Vierbeiner erweitert. So auch in diesem Fall, denn Maia, die elegante Whippet-Dame, war stets an der Seite ihrer Besitzerin Allison. Whippets, das ist eine alte englische Hunderasse, die schon im 19. Jahrhundert zur Jagd eingesetzt wurden. Und tatsächlich: Mit ihrer in sich ruhenden und fast schon aristokratischen Ausstrahlung fügte sich Maia perfekt in die Welt von Quartett ein. Sie war bei jeder Probe dabei und lauschte entspannt den Klängen der Musik – ein absolut zuverlässiges Zeichen dafür, dass die Komposition von Luca Francesconi im Vergleich zu vielleicht so manch einer neuen Musik durchaus anhörbar ist und keinerlei Unbehagen verursacht!

Titelbild: Thomas Jauck

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