Kunst und Respekt

Kunst und Respekt

Mädchen in Not ist ein Auftragswerk der Oper Dortmund, komponiert von Michael Essl nach dem gleichnamigen Schauspiel von Anne Lepper. Dessen Hauptfigur Baby hat ihr altes Leben mit ihren zwei Liebhabern Jack und Franz satt. Diese tauscht sie ein gegen zwei Puppen, mit denen sie nach Italien möchte. Jack und Franz gefällt das nicht, also schmieden sie einen Plan: Wenn sie sich als Puppen verkleiden und Baby das Leben schwer machen, kommt sie schon zu ihnen zurück. Babys Freundin Dolly hat derweil ganz andere Sorgen. Kein Mann will etwas von ihr wissen und eine Puppe kann sie sich nicht leisten.

Der absurde, mitunter äußerst schwarze Humor des Stückes und die vier Figuren, die sich auf ihrer Suche nach Glück und Selbstfindung in einer rauen gesellschaftlichen Realität aufreiben, bilden die Basis von Mädchen in Not. Diese Gesellschaft zeichnet Anne Lepper vielschichtig, thematisch eng verwoben – Spitzen eines Eisberges, weithin sichtbar und mit der Gefahr, daran zu zerschellen. Für eine Vertiefung der im Stück enthaltenen Themenfelder (u. a. Formen von Diskriminierung oder fraglicher Geschlechterbilder) kooperiert die Junge Oper mit dem Respekt-Büro des Jugendamtes der Stadt Dortmund. Diese begleiten die Proben und entwickeln für besuchende Schulklassen einen kostenfreien, inhaltlich produktionsbezogenen Workshop.

In diesem Interview sprechen der Regisseur Sybrand van der Werf (im Intervier abgekürzt mit SvdW) und zwei Mitarbeitende des Respekt-Büros – Britta Ubbens (BU) und Stefan Woßmann (SW) – mit Dany Handschuh, Agentin für Diversität an der Oper Dortmund.

© Björn Hickmann

Könnt ihr euch vorstellen?

SvdW: Ich bin Sybrand van der Werf, Regisseur von Mädchen in Not. Ich arbeite üblicherweise in den Bereichen Musiktheater und Jugendtheater. In der Jungen Oper vereinen sie sich.

SW: Mein Name ist Stefan Woßmann. Ich arbeite beim Jugendamt der Stadt Dortmund und leite dort das Respekt-Büro. Wir machen politische Jugendbildung mit den Schwerpunkten Diversität, Demokratieförderung und Prävention von Rechtsextremismus.

BU: Ich heiße Britta Ubbens und arbeite als studentische Unterstützungskraft im Respekt-Büro. Ich betreue die Kooperation mit der Jungen Oper Dortmund und bin dafür die Hauptansprechpartnerin.

Was zeichnet die Arbeit des Respekt-Büros aus?

SW: Wir machen Workshops zu den bereits genannten Schwerpunkten mit Jugendlichen in der Schule, in Jugendverbänden oder in Freizeiteinrichtungen. Ziel ist der daraus entstehende Dialog über drängende, gesellschaftliche Fragen, die junge Menschen bewegen.

SvdW: Ich habe vorher noch nie von einer solchen Einrichtung gehört. Ist das Dortmund-spezifisch?

SW: Ja, uns gibt es tatsächlich nur hier.

Als das Stück in unserer Dramaturgie das erste Mal gelesen wurde, hat es durchaus kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Was war euer Eindruck nach der ersten Lektüre?

SvdW: Ich habe gedacht: Puh, das ist ein brutales, ein schweres Stück mit einer riesigen Bandbreite gesellschaftlich brisanter Themen. Michael Essl, unser Komponist, war sofort begeistert, weil es Wucht und Witz hat. Ab dann war ich auch an Bord. Ein Komponist muss Feuer fangen für einen Stoff, insbesondere bei einer Uraufführung – sonst kann auch ich aus dem Stück nicht viel machen.

SW: Auch mir schlug diese Wucht direkt entgegen. Aber ich habe sie als positive Herausforderung wahrgenommen und war neugierig, wie wir damit umgehen. Wir konnten ja keines unserer bisherigen Workshop-Programme darauf anwenden. Also haben wir etwas Neues entwickelt, dass diesen Prozess der Annäherung an die Themen des Stückes mit einbezieht. Ich bin sehr gespannt auf den Dialog mit den jungen Menschen, die die Oper und den Workshop besuchen.  

BU: Vor der Spielzeitpause besuchten wir Vorproben zu Mädchen in Not. Es war sehr interessant zu beobachten, wie mit jedem Besuch das Verständnis für den Witz dieses harten Textes wuchs. Aber eben auch die Frage: Wie bringen wir diese Vielfalt an Themen in einem Workshop zusammen?

© Björn Hickmann

Welche Thematiken stecken in dem Stück?

SvdW: In der Vorprobenwoche haben die Darsteller*innen und ich alle Themen einzeln auf Karteikarten geschrieben. Am Ende waren wir bei mehr als 50 Karten, die auf drei Tischen ausgebreitet waren. Natürlich steckt in jedem Stück eine Bandbreite von Themen, aber bei der Autorin Anne Lepper ist das Konzept. Denn wir sind immer, ob draußen auf der Straße oder über die Sozialen Medien, mit tausend Themen gleichzeitig konfrontiert. Die erklären sich nicht bis ins letzte Detail, sondern begegnen uns meist flüchtig in Andeutungen, Bemerkungen, Blicken, schnellen Bildern, verwoben zu einem Netz, in dem wir uns als Gesellschaft immer wieder verheddern. In diesem Netz durchzieht sich Rassismus, Bodyshaming, kapitalistische Konsumverherrlichung, Victim Blaming, Täter*innen-Opfer-Umkehr, Klassismus und vieles mehr. Die Hauptfigur Baby versucht aus ihrer Perspektive immer das Richtige zu tun, trifft aber trotzdem die falschen Entscheidungen und landet so in einer Spirale der Antimoralität.

Was meinst du mit Antimoralität?

SvdW:Die Figuren handeln nach einer Moral, die unserer eigentlichen entgegensteht und gehen äußerst respektlos miteinander um. Diesen Mechanismus nenne ich Antimoralität. Es geht dem Stück und mir aber nicht darum, eine Anleitung zu geben, wie man am besten ein schlechter Mensch wird. Man soll vielmehr denken: Warum tun die Figuren das, hört doch endlich auf, so schrecklich zueinander zu sein. Darin steckt eine absurde Komik – und es ist die Hauptaufgabe der Inszenierung, diese genau zu treffen.

© Björn Hickmann

Ich nehme an, das Respekt-Büro geht diese Thematiken regulär nicht über Komik an?

BU: (lacht) Nein. Aber auch wir im Team haben zu Beginn versucht, alle Themen aufzuschreiben und zu ordnen. Es war schnell klar: Wenn unser Endprodukt ein Workshop sein soll, müssen wir eine Auswahl an Inhalten treffen. Wir haben uns daher auf Bodyshaming, Gewalt, Stereotype und Vorurteile beschränkt, weil diese Themen gerade bei Jugendlichen ab 16 Jahren besonders relevant und in ihrem Alltag verankert sind. Aber wir lassen auch Raum für die Themen, die die Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Stück interessieren.   

SvdW: Ein gutes Bild für diese permanente Themen-Wucht ist die Facebook-Timeline. Du scrollst und scrollst und mit jedem Post wirst du auf ein drängendes, gesellschaftliches Thema aufmerksam gemacht.

BU: Genau! Und gerade weil Jugendliche ganz viele unterschiedliche Plattformen nutzen, nehmen wir das mit auf. Mädchen in Not zitiert im Bühnenbild das Ideal einer Scheinwelt. Diese Scheinwelt ist für die Jugendlichen, die sich regelmäßig auf Social Media-Plattformen aufhalten, mittlerweile völlig normal geworden und sie versuchen, dieser gerecht zu werden. Beispielsweise durch Markenklamotten oder ein bestimmtes äußeres Erscheinungsbild. Auch das hinterfragen wir in dem Workshop.

Im Stück gibt es für das Außen eine ganz konkrete Rolle: Die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens. Was hat diese Gesellschaft mit der unsrigen zu tun?

SW: Es ist ein Negativ-Bild unserer Gesellschaft. Aber genau wie in unserer arbeitet sich die Jugend an ihren Regeln ab, versucht sich ihres Korsetts zu entledigen und letztlich ihr eigenes Ideal durchzusetzen.

SvdW: Die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens ist ein ziemlich dummer Haufen, aber sehr mächtig, verführerisch und gefährlich. Die Außenwelt hat in unserem Leben immer das Potential, gefährlich zu sein. Sei es für mich, wenn ich versuche, wie eine Maus in der Ecke zu verschwinden, wenn ich einer Gruppe Fußballfans oder Hooligans begegne oder für meine Frau, die nachts nicht mehr joggen geht, weil ihr etwas passieren könnte. Ich glaube, dass viele Menschen Gesellschaft genauso empfinden, wie die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens.

Die Figuren gehen durchaus sehr brutal miteinander um. Die beiden Männer Jack und Franz handeln sexistisch und nach einem Prinzip toxischer Männlichkeit. Baby, die Hauptfigur, ist deren Opfer, vertritt aber ein ebenso toxisches Weiblichkeitsideal. Sie mobbt aktiv ihre beste Freundin Dolly und zeigt rassistische Züge. Das Stück erzählt in großen Teilen aus der Täter*innen-Perspektive. Ist das reizvoll oder problematisch?

SvdW: Beides.

SW: Aus pädagogischer Sicht würde ich sagen, dass die Täter*innen-Perspektive überbewertet wird. Und speziell in diesem Stück-Kontext steht die Frage im Raum, wo ich mich als Zuschauer*in wiederfinden kann. Und da ist manchmal beides möglich: Opfer und Täter*in. Manchmal liegt das gar nicht so weit auseinander.

SvdW: Was daran problematisch sein kann, ist klar. Das meinte ich vorhin mit: Das Stück will keine Anleitung sein, wie man Mitmenschen besonders schlecht behandelt. Aber Menschen machen immer Fehler. Das Stück zeigt auch, dass es möglich ist Täter*in zu sein, ohne es zu wissen. Auf der Bühne behandeln sich die Figuren schlecht, alles geht schief und am Ende bricht die Scheinwelt komplett zusammen. Und das Publikum schaut in diesen schrecklichen Spiegel und fragt sich: „Bin ich manchmal auch so? Vielleicht sollte ich das ändern.“ Und dann haben wir noch die absurde Komik, die uns dabei hilft, die Figuren und ihre Handlungen nicht ganz ernst zu nehmen. Es ist sehr reizvoll, das zu inszenieren, und ich hoffe ebenso reizvoll, es anzuschauen.

Die Idee hinter der Kooperation mit dem Respekt-Büro war, zusammen mit der Inszenierung einen zusätzlichen Rahmen für die Kontextualisierung dieser Themenvielfalt zu schaffen und einen verstärkten Dialog darüber zu ermöglichen. Wie genau findet das statt?

BU: Zum einen durch den Workshop, der anhand der Themen des Stückes entwickelt wurde. Der kann von den Schulklassen zur Vor- oder Nachbereitung kostenfrei und terminlich flexibel hinzugebucht werden. Zum anderen nehmen wir als Respekt-Büro an den nach jeder Vorstellung angesetzten Nachgesprächen teil. Nach der Vorstellung ist außerdem ein wenig Zeit eingeplant, damit die Schüler*innen auf an der Wand aufgehängten Themenpapieren ihre Gedanken spontan aufschreiben können. Auf diese können wir uns dann zusätzlich in den Workshops beziehen.

Gibt es noch etwas, das ihr zum Schluss sagen möchtet?

SvdW: Ich finde es toll, dass der Kontakt zum Publikum und der Austausch mit ihm hier so ernst genommen werden. Denn letztlich ist es genau das, was wir mit jedem Theaterstück erreichen wollen. In dieser Zusammenarbeit hebt die Oper das ganz deutlich als ein aktives Kommunikationsmittel hervor. Das ist wunderbar.

SW: Über den Weg eines Kunstproduktes bekommen wir einen ganz neuen Zugang zu den Jugendlichen, um unsere politischen Themen zu vermitteln. Das ist sehr spannend und wir freuen uns über diese Zusammenarbeit.

Termine Mädchen in Not :

https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/maedchen-in-not/

© Björn Hickmann

Respekt-Büro Dortmund:

https://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/familie_und_soziales/jugendamt/bildung_foerderung_ja/respekt_buero_1/index.html

Die Workshops des Respekt-Büros können über Britta Ubbens (bubbens@stadtdo.de) gebucht werden. Es besteht darüber hinaus auch die Möglichkeit, eine theaterpädagogische Einführung in die Oper durch unser Team der Jungen Oper zu erhalten (jungeoper@theaterdo.de). Der Workshop des Respekt-Büros und die theaterpädagogische Einführung können auch zusammen gebucht werden.  

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