10 Dinge, die Sie über die Lustige Witwe wissen sollten

10 Dinge, die Sie über die Lustige Witwe wissen sollten

Im Januar 2022 steht mit Franz Lehárs unsterblicher Lustigen Witwe die nächste Premiere ins Haus! Für ihren Auftritt in Dortmund hat sich die Grande Dame der Operette jedoch ein neues (altes) Gewand zugelegt: Sie trug es 1928 zum ersten Mal in Berlin bei ihrem Auftritt im Metropoltheater – schillernd, pompös und extravagant. Die Regie führte Erik Charell, der Direktor des Großen Schauspielhauses und ein bewährter Revueproduzent. Um sich im konkurrenzgeschwängerten Theaterbetrieb der Metropole ein Alleinstellungsmerkmal zu verpassen, ließ er die Lustige Witwe wie auch manch andere Operette vollkommen ummodellieren. Heraus kam eine umfangreiche Revue-Operette, die mit vielen Jazz-Einsprengseln dem Musikgeschmack der Zeit entsprach und die Geschichte der Hanna Glawari ein bisschen anders erzählte. Das musikalische Material dieser 1928er-Version, rekonstruiert von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn, liegt nun der Arbeit des Regieteams (Musikalische Leitung: Philipp Armbruster, Regie: Thomas Enzinger, Bühne und Kostüme: Toto, Choreografie: Evamaria Mayer, Licht: Sabine Wiesenbauer, Video: Irene & Till Kind) zugrunde, das daraus seine ganz eigene Fassung gemacht hat. So wird ganz nebenbei ein Bogen über 100 Jahre gespannt: Die 1928er Musik trifft auch ein 2022er Textbuch und wird so zu einer ganz eigenen Dortmunder Witwe!

Entdecken Sie hier zehn interessante, skurrile und lustige Details, bevor Sie die Lustige Witwe auf der Bühne der Oper Dortmund erleben können.

1) So eine lästige Witwe!

Das Theater an der Wien im Winter von Carl Wenzel Zajicek
© public domain

Das Schauspielstück, dass die beiden Librettisten Victor Léon und Leo Stein als Grundlage für ihr Operettenbuch verwendeten, stammte von dem französischen Schriftsteller Henri Meilhac und hatte den Titel L’attaché d’ambassade (1861), zu Deutsch Der Gesandtschaftsattache. Aus urheberrechtlichen Gründen durften sie diesen jedoch nicht für ihre umgeschriebene Operette verwenden, und so musste ein neuer Titel her. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Legende besagt, dass der Komponist höchstpersönlich aus purem Zufall darauf gestoßen ist. Lehár soll im Direktionsbüro des Theater an der Wien gesessen haben und dort folgenden Satz aufgeschnappt haben: „Keine Freikarten mehr für die Witwe von dem Amtsrat. Wenn sie das nächste Mal kommt, werfen Sie sie hinaus, die lästige Witwe!“ Er hat jedoch wohl nur mit halbem Ohr zugehört, denn statt der „lästigen“ Witwe hat Lehár vermeintlich von der „lustigen“ Witwe reden hören – und so war der neue Titel seiner nächsten Operette geboren!

2) Turbulenzen in Italien

Nicht immer herrscht Friede, Freude, Eierkuchen in der Operettenwelt. In Italien, genauer gesagt in Florenz und in Triest, verursachte die Lustige Witwe sogar einige Turbulenzen: Während einer Vorstellung im florentinischen Teatro della Pergola im Juni 1907 musste tatsächlich eine Vorstellung unterbrochen werden, da es im Publikum zu einem lautstarken Tumult kam. In der Zeitung wurde berichtet: Es „entstand im Zuschauerraum ohrenbetäubender Lärm, der beinahe eine Viertelstunde dauerte. Ein Teil der Besucher*innen pfiff und schrie aus Leibeskräften; gleichzeitig flatterten von der Galerie rote Zettel in den Saal, auf welchen in mangelhaftem Italienisch zu lesen war, dass die Italiener die Montenegriner nicht beleidigen lassen wollten. Die Polizei holte ungefähr fünfzig Lärmmacher heraus und wies sie aus dem Theater. Dann wurde unter großem Beifall weitergespielt.“ Die verwandtschaftliche Verbundenheit des italienischen mit dem montenegrinischen Königshaus führte dazu, dass sich auch in Italien manche Nationalist*innen angegriffen fühlten. Auch in der österreichischen Hauptstadt kam es zu Demonstrationen von montenegrinische Student*innen vor dem Parlamentsgebäude. Ob sie alle das Stück zuvor tatsächlich gesehen hatten? Denn tatsächlich spielt die politische Dimension ja eine sehr untergeordnete bis keine Rolle in der Lustigen Witwe. Das ursprüngliche, dem Libretto zugrundeliegende Schauspiel Der Gesandtschaftsattaché spielt eigentlich in einem deutschen Klein-Fürstentum; um eine diplomatische Krise mit dem Nachbarn zu vermeiden, verlegten die Librettisten ihre Handlung in das fiktive Pontevedro, das jedoch nicht nur klanglich an Montenegro erinnert – im Punkt 3) werden die historischen Parallelen beschrieben. Looking for place where to trade? Best forex brokers in South Africa with real reviews.

Auch der 1925 erschienene Stummfilm Die lustige Witwe des amerikanischen Regisseurs Erich von Stroheim (mit dem jungen Clark Gable als Soldat!), der darin aus Montenegro „Monte Blanco“ gemacht hatte, sorgte in einigen Ländern für Aufregung. Der tatsächlich existierende Fürst Danilo von Montenegro hatte den Eindruck, dass in verschiedenen Figuren des Films Anspielungen auf die reale Königsfamilie gemacht wurden – was selbstverständlich nicht hingenommen werden konnte. Als Reaktion auf seinen Protest wurde der Film in Deutschland, Jugoslawien und Italien verboten – die Fürstenhäuser aller drei Länder standen in enger Verbindung zu Montenegro.

3) Mehr Sein als Schein

Kronprinz Danilo von Montenegro, um 1900 © public domain

In ihrer Originalgestalt spielt die Lustige Witwe in dem fiktiven Staat Pontevedro, dessen in Paris stationierter Gesandter für die Lösung der finanziellen Missstände einen unkonventionellen Weg verfolgt. Dieses Konstrukt stammt aus der Feder der beiden Librettisten Victor Léon und Leo Stein, das sich Henri Meilhacs Lustspiel L’attaché d’ambassade zur Vorlage nahm, aber an die eigenen Umstände angepasst wurde. Dafür verlegten sie die Handlung in das fiktive Land Pontevedro, um keine diplomatische Krise heraufzubeschwören. Allerdings wussten bei der Uraufführung alle, was tatsächlich gemeint war – und die beiden Librettisten versteckten gar einige Hinweise, die den meisten Menschen im Publikum damals bekannt gewesen sein dürften. Schon allein klanglich ist der Name „Pontevedro“ sehr nah an dem realen Staat Montenegro, der zu seinem Nachbarland Österreich-Ungarn ein nicht immer spannungsfreies Verhältnis pflegte. Dennoch hielt das Wiener Kaiserhaus aus politischen Erwägungen eine schützende Hand über Montenegro, das damals als wirtschaftliches Entwicklungsland galt. So konnte man in Meyers Großem Universallexikon nachlesen: „Die Kosten der Feier des 200-jährigen Bestehens des Herrscherhauses, die im Sommer 1896 als eine großserbische mit viel Pomp geplant war, sind wegen der Armut des Bergvölkchens durch den Fürsten zur Milderung der Not verwandt worden. Geldverlegenheiten waren der Grund zu einer erheblichen Verstimmung mit Österreich.“ Übrigens stammte die Idee von „Pontevedro“ im eigentlichen Sinn gar nicht von Stein und Léon, sie liehen sie sich von einem Operneinakter, nämlich Die Rose von Pontevedra von Josef Forster aus dem Jahr 1893. Aus der spanischen Stadt machten die beiden einen fiktiven Staat. Doch für ihr Libretto zur Lustigen Witwe gingen die beiden noch einen Schritt weiter und bauten eine Vielzahl kleiner Anekdoten ein: So gab es tatsächlich einen montenegrinischen Kronprinzen namens Danilo, der zwischen 1871 und 1939 lebte. Und auch der Name des Baron, der als pontevedrinischer Gesandter in Paris zugange ist, war kein reines Hirngespinst: Es gab einen Prinzen mit Namen Mirko, dem eine Woiwodschaft, also ein Verwaltungsbezirk, an dem Fluss Zeta in Montenegro gehörte. Der Kanzlist Njegus wiederum verdankte seinen Namen dem montenegrinischen Fürstenhaus selbst, das der Familie Petrović-Njegoš entstammte. Und auch Hannas Nachname kommt nicht von irgendwo, denn die sogenannten Glawari waren Hauptmänner, die sich als Vertreter der Upper Class in einer Ratsversammlung trafen. Doch auch aus Frankreich stammte einige Inspirationen: So eröffnete im Jahr 1893 Maxim Gaillard in der Rue Royale ein Lokal, das er „Chez Maxim´s“ nannte. Zunächst verkehrten dort vor allem Kutscher, aber bald wurde das Restaurant zu einem der angesagtesten Plätze in Paris. Cléo de Mérode, Tänzerin und Muse von Edgar Degas, erinnerte sich: „Maxim’s war in der Zeit zwischen 1900 und 1914, als ich dort fast jeden Abend verbrachte, das internationale Restaurant des Vergnügens. Es war der einzige Ort, wo reiche, mit Perlen und Diamanten behängte Kurtisanen in schicken Automobilen vorfuhren. Sie hatten alle viel Humor und waren durchaus geistreich. Das Maxim’s galt als Treffpunkt von Leuten, die wirklich Esprit besaßen. Alle internationalen Persönlichkeiten, die sich in Paris aufhielten, kamen hierher. Wenn sie dann in ihre Heimatländer zurückkehrten, nahmen sie so etwas wie ein Diplom für das Leben im großen Stil mit nach Hause.“

4) Des Göttergatten Pech ist der Witwe Glück

Mizzi Günther 1918 © public domain

Eines der bekanntesten Stücke der Lustigen Witwe ist das berühmte „Vilja-Lied“ der Hanna Glawari. Doch vermutlich die wenigsten wissen, dass Franz Lehár die Komposition ursprünglich für ein ganz anderes Werk geplant hatte: Der Göttergatte, eine Operette die auf dem tragikomischen Amphytrion-Stoff basiert. Sie wurde 1904, also ein Jahr vor der Witwe, am Wiener Carl-Theater uraufgeführt und litt unter einigen Längen. So musste Lehár noch im laufenden Probenprozess kurz vor der Premiere ganze Nummern aus dem Stück streichen, selbst wenn er von derer musikalischen Qualität überzeugt war. Eine dieser Nummern war eine Arie der Alkmene, doch Lehár vernichtete sie nicht, sondern bewahrte sie vorausschauend auf. Im Folgejahr fügte er die Nummer dann äußerst zeitsparend in seine Neukomposition Die lustige Witwe ein. Und auch die Hauptdarstellerin freute sich: Mizzi Günther, die in der Uraufführung die Hanna Glawari sang, war bereits beim Göttergatte an Bord gewesen und hatte dort die Alkmene gegeben. So hatte sie die Musik ihrer Arie bereits gelernt und konnte nun darauf zurückgreifen. Ob die Arie dem Göttergatten, der heute quasi unbekannt ist, einen größeren Ruhm beschert hätte? Man weiß es nicht; mit der Lustigen Witwe ist sie zumindest bis heute untrennbar verbunden.

5) Die Mädels vom „Maxim“

Die Grisetten aus der Operette “Die lustige Witwe” von Franz Lehar im Theater an der Wien. Photographie von Ludwig Gutmann. 1906.

Lolo, Dodo (= Kindersprache für Schlaf), Jou-Jou (= Spielzeug), Clo-Clo, Margot (= Elster; Synonym für ein leichtlebiges Mädchen) und Frou-Frou (= Rauschen, Rascheln von Seide) – das sind die Spitznamen der flotten Mädels in Danilos Lieblingslokal „Maxim“. Als sogenannte Grisetten sorgen sie allabendlich für Unterhaltung: Sie lassen ihre Röcke fliegen und flirten mit den männlichen Besuchern. Die Bezeichnung „Grisette“ leitet sich jedoch ursprünglich von dem gleichnamigen grauen Wollstoff ab, der besonders günstig und strapazierfähig war. Aus diesem Stoff waren in der Regel die Kleider der selbstständigen jungen unverheirateten Frauen aus dem niederen Stand, die sich keine anderen Materialen leisten konnten. Sie mussten sich ihr Geld als Modistin (Hutmacherin), Näherin, Wäscherin oder Fabrikarbeiterin verdienen und wohnten alleine, also getrennt von ihrer Familie. Dies war im 19. Jahrhundert noch ziemlich unkonventionell und modern, weswegen man diese Frauen oft auch schief anschaute. Hinzu kam, dass einige dieser Frauen einen nicht immer ganz „ehrbaren“ Lebenswandel führten, indem sie mit ihren Partnern unverheiratet zusammenlebten. Sie waren jedoch keine Prostituierten, dies gilt es zu betonen. Vielmehr waren sie das weibliche Pendant zu den sogenannten Bohémiens. Zwei andere, ebenfalls berühmte Grisetten der Opernliteratur sind übrigens Mimì und Musetta aus Giacomo Puccinis OperLa Bohème!

6) Ein revolutionäres Werk

Franz Lehár © public domain

Aus heutiger Perspektive kann man es kaum glauben, aber bei ihrer Uraufführung war die Lustige Witwe ein aufsehenerregendes, ungewöhnliches Werk. Dies war bereits daran zu erkennen, dass die Theaterleitung des Theater an der Wien, wo das denkwürdige Ereignis im Dezember 1905 stattfinden sollte, keine allzu großen Hoffnungen in das Stück setzte und aus diesem Grund das Ausstattungsbudget stark limitierte. Wilhelm Karczag, der damalige Direktor, soll einmal gar geäußert haben: „Das ist doch keine Musik!“ Aber natürlich war es Musik, was er da hörte, und zwar eine ganz ausgezeichnete. Sie war nur so ungewohnt für seine Ohren, dass er damit erstmal nicht allzu viel anfangen konnte. Für uns heute ist das natürlich kaum vorstellbar, sind die Highlights der Lustigen Witwe doch allseits bekannte Ohrwürmer, die man nur schwer wieder loswird. Aber früher war das – nicht nur bei Lehár und seiner Lustigen Witwe – anders, und Berichte von Zeitgenoss*innen können uns dabei helfen, das ursprünglich Besondere von diesen Stücken nachzuempfinden. So war für Stan Czech, den Autor der Biografie Franz Lehár: Sein Weg und sein Werk (1948) klar, dass diese Operette eine Sonderstellung eingenommen hatte. Ja, er ging sogar so weit, dieses Stück als revolutionäres Werk zu kategorisieren und fand verschiedene Aspekte, an denen er dies festmachte.

Punkt 1 – Der Inhalt: „Ja, es war eine Revolution, die Hanna Glawari in der Operettenwelt hervorgerufen hatte. Zunächst eine Revolution des Inhalts. Schluss mit den romantischen Unwahrscheinlichkeiten, den süßlichen Märchen auf den Brettern! Die Zeit ist endlich vorbei, wo auf der Bühne selbstgefällige Lobgesänge für Wien, seinen Wein und seine Mädel allein genügten. Die Gestalt der lustigen Witwe war wirklichkeitsnah, die Motive des Werkes sind fasslich, und der dramatisch Aufbau ist logisch.“

Punkt 2 – Die Musik: „Es war aber auch eine Revolution der musikalischen Gestaltung: der melodiöse Einfall kommt wieder zur Geltung. Er wird das Primäre, und die Klischee-Musik, die Herrschaft der Nummern, deren Verlauf sich schon bei den ersten zwei Takten erkennen lässt, ist gebrochen.“

Punkt 3 – Die Orchestertechnik: „Die Behandlung des Begleitsatzes, der Instrumentation und Formgebung zeugen vom Geist der Moderne. Die alten acht Geiger, je zwei Celli, Bässe, Bratschen, die drei Hörner, eine Oboe, Posaune, Fagott und Schlagzeug genügen ihm nicht. Er setzt Harfe, Tuba, alle Holzbläser und Hörner für die Operette durch … Lehár wagt alles.“

Es ist spannend zu lesen, wie Die lustige Witwe zur Zeit ihrer Uraufführung wahrgenommen wurde, und diese Betrachtungen regen dazu an, das eigene Ohr zu schärfen und beim nächsten Mal ein bisschen genauer hinzuhören, was da eigentlich im Orchestergraben passiert. Die Berliner Fassung von 1928 setzt dem Ganzen natürlich nochmal eine Krone auf, indem sie das mittlerweile 23 Jahre alte Werk überarbeitet und an den Geist ihrer ganz eigenen Moderne anpasst. Und wie viel hatte sich seitdem getan! Der Jazz hatte Einzug im deutschsprachigen Raum gehalten, insbesondere in Berlin. Schon 1928 haftete der Lustigen Witwe bereits ein bisschen der Dunst der Vergangenheit an, sodass man versuchte, das Stück in die neue Zeit zu übertragen. Wie das geschah, ist im nächsten Kapitel zu lesen!

7) Charell lässt die Grisetten tanzen

Erik Charell © public domain

Als Erik Charell 1924 die Künstlerische Leitung des Großen Schauspielhauses in Berlin von Max Reinhardt angeboten bekam, sah er sich mit einem Mammutprojekt konfrontiert: Das riesige Theater – es passten sage und schreibe über 5.000 Zuschauer*innen hinein! – schrieb rote Zahlen und musste wieder auf Kurs gebracht werden. Als gewieftes Multitalent (er war Tänzer, Schauspieler, Choreograf, Stage Manager und Regisseur) machte er aufwendige Revuen zu seinem Markenzeiten und füllte damit sein Theater. Lange Abende mit aufwendigen Bühnenbildern, unzähligen Nummern (einer bunten Mischung aus Gesang, Tanz, Kabarett, Artistik etc.) und viel nackter Haut lockten das Publikum ins Große Schauspielhaus und sorgten erstmal für einen Aufschwung des Betriebes. Das Glück hielt sich jedoch nicht lange, denn in Berlin zur damaligen Zeit gab es über 50 verschiedene Theater, die um die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer*innen buhlten. Da musste etwas geboten werden! Als dann die Begeisterung für die Revuen langsam wieder abflaute, musste sich Charell etwas Neues überlegen. Lange war die Operette das Zugpferd im Theaterbetrieb gewesen, doch die hatte langsam etwas Staub angesetzt und überzeugte das moderne Publikum der 20er Jahre nicht mehr maßlos. So kam Charell auf die Idee, die beiden auslaufenden Erfolgsmodelle Revue und Operette zu vereinen und durch diese Neuartigkeit für zumindest noch eine gewisse Zeit wiederzubeleben. Eines der ersten Werke, derer er sich dafür bediente, war Madame Pompadour von Leo Fall. Und weil das Konzept aufging, realisierte er auf diese Weise eine ganze Reihe von Revue-Operetten, im Jahr 1928 schließlich Franz Lehárs Die lustige Witwe. Dabei konnte er auf ein bewährtes Team zurückgreifen: Für die Änderungen der Texte (und zwar nicht nur zum Zweck der Modernisierung sondern auch auf speziellen Wunsch von Fritzi Massary, der Hanna der Premierenserie) waren Rudolf Schanzer und Ernst Welisch zuständig, die für die diversen Einlagen hinzukommenden Tänze und Nachtänze verantwortete Adam Gelbtrunk.

8) Neue Musik für die Berliner Witwe

Fritzi Massary © public domain

Fritzi Massary, die lustige Witwe Hanna der Berliner Premierenserie, hatte großen Einfluss auf die Gestalt des Werkes genommen. Sie war in diesen Tagen ein großer Publikumsliebling und Star am Berliner Theaterhimmel – galt sie doch als berühmteste Operettensängerin ihrer Zeit. Darum konnte sie sich Dinge erlauben, die nur wenigen Künstler*innen vergönnt waren. Unter anderem ließ sie es sich vertraglich zusichern, dass sie bestimmen konnte, welche Nummern sie singen würde, und welche nicht. Dies bedeutete, dass sie sich gerne mal die besten Nummern ihrer Kolleg*innen zu eigen machte, wodurch ihre Rollen eine Aufwertung erfuhren. Auch bestand sie gerne auf zusätzliche Chansons, um ihr Können noch besser unter Beweis stellen zu können. Da sie zwar nicht die allerschönste Stimme besaß, aber über ein unglaubliches dramatisches Talent und außergewöhnliche Darstellungskraft verfügte, nahm sie auch gerne Einfluss auf den Text, um ihrer Rolle das gewünschte Profil zu verleihen. Vermutlich waren dies die Gründe, warum man das Lied „Gigolette“ aus Lehárs nur wenig erfolgreicher Operette Libellentanz (Libretto: Alfred Maria Willner) aus dem Jahr 1923 auswählte und neu überarbeitete. Im Original ist der Text dieses Foxtrotts wahnsinnig frivol; aus heutiger Perspektive kann man kaum glauben, wie ein solches Lied auf der Bühne gesungen wurde und keinen Skandal hervorrief. Als Titel „Ich hol´ dir vom Himmel das Blau“ ist die Nummer für eine Operette ungewöhnlich abgeklärt und resigniert: Statt frohlockend den rosaroten Himmel voller Geigen zu preisen, kennt man hier die Vergänglichkeit der Liebe und weiß, dass ein verliebtes Herz nur zu leicht Gefahr läuft, einen Sprung zu bekommen. In der Berliner Fassung wird dieses Stück von Hanna gesungen, die sich nur zu gut mit gebrochenen Versprechen auskennt. Regisseur Thomas Enzinger hat es in seiner Version der von ihm selbst geschaffenen Rolle des Adán (Morgan Moody) zugeteilt, und verleiht der Figur so mehr Profil.

„Gigolette“ – Foxtrott aus Libellentanz„Ich hol´ dir vom Himmel das Blau“ aus Die lustige Witwe
Schon hat die Nacht Laster entfacht, die sich bei Tag verkrochen vor der Sonne Macht. Buhlerisch thront oben der Mond, lächelt sarkastisch als Trabant der Demimond’. Trällernd den Gassenhauer, rauchen die koketten schlanken Grisetten die Zigaretten. Sündige Augen, schwarzumrändert, leuchten phosphorhaft, täuschen uns vor den tollen Rausch der Leidenschaft.Nichts auf der Welt leichter uns fällt, als zu versprechen, was man später doch nicht hält. Tausenderlei schwört man im Mai, was man vergaß, noch eh der Juni halb vorbei! In den gewissen Liebesstadien und -phasen blühen die Phrasen voll Poesie; Glühende Worte, wie sie sonst ersinnt nur ein Poet, Lullen dich ein, wenn so ein Heißverliebter fleht:
„Komm’, sei heut’ mein Liebchen, sei nett!“ sagt der Apach’ zu Gigolett’. „Ich pack’ heut’ die Lieb noch beim Schopf, schon morgen fällt vielleicht mein Kopf. Komm’ tanz’ noch mit mir die Quadrill´, soll morgen gescheh’n, was da will! Komm’ her, trink Absynth! Jung noch wir sind. Tanz’ schönes Sündenkind!“Ich hol‘ dir vom Himmel das Blau, wenn du‘s verlangst, geliebte Frau! Ich bring’ jedes Opfer dir dar, was du dir träumst, ich mach‘ es wahr. – Doch hat er erreicht, was er will, Dann wird’s von den Opfern ganz still … Man weiß, jeder brach, Was er versprach – Doch man gibt trotzdem nach!
Dick ist die Luft, herb ist der Duft. „Mach dir´s bequem“ der Häuptling der Apachen ruft. Gigolett’ schreit: „Der geht zu weit!” Doch der Apache reißt in Fetzen schon ihr Kleid. Seidenes Mieder, duftend wundersüß nach Flieder, reizende Knöspchen, sie blühn´ im Schnee. Schimmernd und rosig gehen Strahlen aus vom jungen Leib. Das ist Paris und seine Königin: das Weib!Wer sich verliebt, ist oft betrübt, weil es kein Liebesglück für’s ganze Leben gibt! Was man sich schwört, was man begehrt, wird uns vom Schicksal oft für Tage nur gewährt! Doch diese Stunden soll man trotzdem nicht bereuen, und stets verzeihen, was auch geschah. Hat ein verliebtes Herz beim Abschied einen kleinen Sprung, bleibt doch ein Lied für ewig in Erinnerung:
„Komm’, sei heut’ mein Liebchen, sei nett!“ sagt der Apach’ zu Gigolett’. „Ich pack’ heut’ die Lieb noch beim Schopf, schon morgen fällt vielleicht mein Kopf. Komm’ tanz’ noch mit mir die Quadrill´, soll morgen gescheh’n, was da will! Komm’ her, trink Absynth! Jung noch wir sind. Tanz’ schönes Sündenkind!Ich hol‘ dir vom Himmel das Blau, wenn du‘s verlangst, geliebte Frau! Ich schenk dir den strahlenden Stern, wenn du mir sagst: „Ich hätt´ ihn gern.“ Ich bring jedes Opfer dir dar, ich mach alle Träume dir wahr. Du musst mir vertrau’n, immer vertrau’n, Königin aller Frau’n.

9) Frische Musik für die Dortmunder Witwe

Henning Hagedorn (© Uli Steinfort) OLYMPUS DIGITAL CAMERA
Matthias Grimminger (© Leszek Januszewski

Die Lustige Witwe ist in der Form, wie sie aktuell in Dortmund zu hören ist, vorher noch nie aufgeführt worden. Von der Berliner Fassung aus dem Jahr 1928, die ihr als Vorlage dient, sind keine Noten existent. Es gibt lediglich einige Quellen wie Schallplattenaufnahmen und ein gesondertes Foxtrott-Potpourri, die als Anhaltspunkt dienen konnten. Doch das Notenmaterial für die aktuelle Aufführung musste neu arrangiert und – was die Nachtänze betrifft – teilweise sogar komponiert werden. Dies lag in den Händen des bewährten Arrangeur-Teams bestehend aus Henning Hagedorn und Matthias Grimminger. Letzterer ist seit 1991 hauptberuflich

Bassklarinettist der Dortmunder Philharmoniker, ersterer unterrichtet Physik und Musik an einem Gymnasium in Menden. Doch gemeinsam haben sich die beiden schon lange der Erforschung und Rekonstruktion der Jazz-Operette verschrieben, aktuell arbeiten sie an ihrer Promotion am Musikwissenschaftlichen Seminar der Uni Detmold/Paderborn: Matthias Grimminger schreibt zu dem Thema Die Operette „Im weißen Rössl“ in ihrer musikalischen Uraufführungsgestalt von 1930, Henning Hagedorn widmet sich dem Projekt Paul Abraham und die Jazz-Operette. Wie die beiden Musiker überhaupt erst dazu gekommen sind, sich mit der Rekonstruktion von Jazz-Operetten zu beschäftigen und wie sie bei ihrer Arbeit vorgegangen sind, können Sie in einem Interview auf dem Opernhausblog nachlesen: http://www.opernhausblog.de/2022/01/eine-neue-alte-lustige-witwe-fuer-dortmund/

10) Witwe im Doppelpack

Gleich zwei bezaubernde Sopranistinnen erwecken die Dortmunder Witwe Hanna Glawari abwechselnd zum Leben: Rebecca Nelsen und Penny Sofroniadou. Beide waren Teil des intensiven Probenprozesses, bei dem ein großer Schwerpunkt auf der choreografischen Arbeit von Evamaria Mayer lag. So bringen sie beide eine persönliche Note in ihre Interpretation der durchaus komplexen Figur – nur ein Grund mehr, die mitreißende Inszenierung mindestens zweimal zu sehen!

Rebecca Nelsen © Stefan Panfili

Rebecca Nelsen ist Mitglied im Ensemble der Wiener Volksoper, wo sie in großen Partien wie u. a. Pamina (Die Zauberflöte), Eurydike (Orpheus in der Unterwelt), Rosina (Il barbiere di Siviglia), Laura (Der Bettelstudent), Adele (Die Fledermaus), Violetta Valéry (La traviata), Gretel (Hänsel und Gretel) sowie Susanna (Le nozze di Figaro) auf der Bühne steht. Ebenfalls an der Volksoper debütierte sie erfolgreich als Hanna Glawari und sprang erst kürzlich mit dieser Rolle in eine Inszenierung an der Oper Frankfurt ein. Neben ihrem Festengagement (bis 2007 war sie Ensemblemitglied des Staatstheaters Braunschweig) ist die texanische Sopranistin ein gern gesehener Gast an zahlreichen renommierten Häusern wie Oper Leipzig, Grand Théâtre de Genève, Malmö Opera, Opéra de Monte-Carlo, Bayerische Staatsoper, Semperoper Dresden, Oper Köln, Teatro La Fenice sowie hochkarätigen Festivals wie Salzburger und Bregenzer Festspiele, Münchner Biennale und Glyndebourne Festival.

Penny Sofroniadou © Markus Hoffmann

Penny Sofroniadou ist seit der Spielzeit 2020/21 Ensemblemitglied am Theater Hagen, wo sie in Rollen wie Adina (L’elisir d’amore), Gretel (Hänsel und Gretel), Silvia (L’isola disabitata), Miss Jessel (The Turn of the Screw) und Raka (Die Blume von Hawaii) auftritt. Im Herbst 2022 wird sie in das Ensemble der Komischen Oper Berlin wechseln, wo ihr Hausdebüt schon diese Spielzeit als Nannetta (Falstaff) bevorsteht. In der Spielzeit 2019/20 gehörte Penny Sofroniadou zum Opernstudio NRW und debütierte u. a. als Kate Pinkerton (Madama Butterfly) an der Oper Dortmund; zuvor war sie 2017–2019 Mitglied im Opernstudio Niederrhein am Theater Krefeld Mönchengladbach. Die griechische Sopranistin absolvierte ihr Studium an der Universität Makedonien in Thessaloniki, an der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie an der Hochschule für Musik Würzburg.

Literaturtipp:

Anton Mayer: Franz Lehár – Die lustige Witwe. Der Ernst der leichten Muse, Wien 2005.

Titelbild: © Björn Hickmann

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